Golem und Dschinn: Roman (German Edition)
gähnend auf ihren Posten saßen. Dann stand er auf der Straße.
Er eilte zur östlichen Grenze von Chinatown in Richtung des Wohnheims jenseits davon. Sein Kopf schmerzte noch vom Druck der Erinnerungen, doch die Gefahr der Auflösung war erst einmal abgewendet. Seine früheren Inkarnationen hielten still, als wollten sie sehen, was er als nächstes tun würde.
Es war erst halb sechs, doch Sophia Winston saß bereits allein am langen Esstisch der Familie und frühstückte Tee und Toast. Die ersten neunzehn Jahre ihres Lebens war Sophia keine Frühaufsteherin gewesen, sondern hatte es vorgzogen, im Bett liegen zu bleiben, bis ihre verzweifelte Mutter das Mädchen zu ihr schickte, um sie zu wecken und anzukleiden. Jetzt allerdings erwachte sie stets vor Tagesanbruch und fror. Das arme Mädchen musste noch früher als sie aufstehen, um im Speisezimmer den Kamin anzufeuern und das Frühstück zuzubereiten. Dann musste sie auch in Sophias Zimmer Feuer machen – Sophia zog sich nach dem Frühstück dorthin zurück –, bevor sie schließlich wieder nach unten gehen und erneut ins Bett fallen durfte.
Sophia mochte es, vor dem Rest des Haushalts aufzustehen. Sie war lieber allein, las die Reisejournale ihres Vaters und trank Tee neben dem prasselnden Feuer im Speisezimmer. Die einzig unerwünschte Gesellschaft war ihr Porträt als türkische Prinzessin, Charles’ Verlobungsgeschenk. Das Bild war eine Katastrophe. Auf der Leinwand trug sie ihr Kostüm und wirkte darin nicht stattlich, sondern nachdenklich, ja sogar melancholisch mit niedergeschlagenen Augen. Sie sah weniger wie eine Prinzessin als vielmehr wie eine Odaliske aus, gefangen gehalten und resigniert. Der arme Charles war bei seiner Enthüllung betroffen gewesen. Bei dem anschließenden Essen hatte er kaum etwas gesagt, aber auf ihre zitternde Hand geschaut, als sie ihre Suppe aß. Ihre Mutter ließ das Porträt im Speisezimmer statt in der Eingangshalle aufhängen, als wollte sie es dafür bestrafen, dass es nicht den Erwartungen entsprach.
Sie nippte an ihrem Tee und blickte auf die Uhr. Ihr Vater stand gewöhnlich um sechs auf und kam bald darauf herunter, um die Zeitungen zu lesen; als nächstes käme ihre Mutter, um die Pläne für den Tag zu besprechen. Der kleine George würde seinem Kindermädchen entwischen und hereinlaufen, um sich küssen zu lassen. So sehr sie ihre Einsamkeit liebte, so genoss sie doch die morgendliche Aufregung. Es war eine knappe, aber notwendige Erinnerung daran, dass sie trotz allem eine Familie waren.
Sie hatte ihren Tee fast ausgetrunken, als aus der Eingangshalle das Geräusch eiliger Schritte zu ihr drang. Sie konnte gerade noch denken, dass es zu früh für Besucher war und sie die Klingel nicht gehört hatte, als eine Stimme laut wurde – es war einer der Bediensteten –, woraufhin eine Frau bestimmt und nachdrücklich antwortete. Ein Schrei, und dann wurde die Speisezimmertür aufgerissen. Eine Erscheinung füllte den Türrahmen aus. Sie war eine der größten Frauen, die Sophia je gesehen hatte. In den Armen trug sie einen erwachsenen Mann.
»Entschuldigen Sie die Störung«, sagte die Frau. Sie sprach mit einem Akzent. »Aber wir brauchen Ihren Kamin.«
Sie betrat das Zimmer. Hinter ihr tauchte ein Mann in zerlumpter Kleidung auf. Ein Dienstbote wollte sich auf die Frau stürzen, aber sie war zu schnell für ihn – wie war das möglich mit dem Mann auf den Armen? Sie stürmte an Sophia vorbei, die überrascht aufstand, und Sophia konnte einen Blick auf ihre unglaubliche Last werfen. Er war groß und schlank und patschnass. Sein Gesicht lag verborgen an der Schulter der Frau. Um ein Handgelenk trug er eine breite eiserne Schelle; sie fing den Feuerschein ein und blitzte auf wie ein Signalfeuer.
Schock durchfuhr sie heftiger als jeder Kälteschauder. Sie stand wie hypnotisiert da, als die Frau vor dem großen Kamin in die Knie ging, den Schutzschirm beiseiteschob und den Mann ins Feuer warf.
Der Dienstbote schrie entsetzt auf, aber der zerlumpte Mann packte ihn und versuchte, ihn aus dem Raum zu drängen, wobei er etwas in einer Sprache sagte, die Sophia nicht verstand. Die Frau starrte konzentriert ins Feuer, als wartete sie auf ein Zeichen. Das Feuer hatte gezischt, als der Mann hineinfiel, doch jetzt prasselte es wieder munter, umgab ihn mit Flammen wie einen Wikinger auf dem Scheiterhaufen. Während Sophia zusah, begann seine Kleidung zu schwelen und zu verbrennen, seine Haut jedoch blieb
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