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Golem und Dschinn: Roman (German Edition)

Golem und Dschinn: Roman (German Edition)

Titel: Golem und Dschinn: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helene Wecker
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kaum bei Bewusstsein und krank vor Hunger. Die Nacht war warm und windig, und das Korn neigte sich in der Brise, eine Million winziger Stimmen, die Geheimnisse flüsterten.
    Das Glühen wurde heller und reichte hoch in den Himmel. Über das Wispern des Korns hörte er Stimmen: Männer, die sich etwas zuriefen, Frauen, die voller Angst aufschrien. Er roch den Rauch von brennendem Holz.
    Er gelangte ans Ende des Feldes, und vor ihm erhob sich eine Anhöhe. Das Glühen erfüllte jetzt sein ganzes Blickfeld. Der Rauch war beißend, die Schreie waren lauter geworden. Die Anhöhe wurde steiler, bis sich Schaalman auf Händen und Füßen hinaufziehen musste, am Ende seiner Kräfte und jenseits aller Grenzen der Vernunft. Er hatte vor Anstrengung die Augen geschlossen, aber das orangerote Licht drang durch seine Lider und zwang ihn weiterzukriechen. Nach einer schier endlosen Strecke gelangte er auf ebenes Gelände, und Schaalman, vor Erschöpfung schluchzend, begriff, dass er oben angekommen war. So schwach, dass er nicht einmal mehr den Kopf heben konnte, brach er zusammen und versank in einer Bewusstlosigkeit, die tiefer war als jeder Schlaf.
    Er erwachte unter einem blauen Himmel. Eine sanfte Brise wehte, und sein Geist war seltsam klar. Sein Hunger war extrem, aber er empfand ihn aus der Distanz, als würde jemand anders verhungern und er ihn lediglich dabei beobachten. Er setzte sich auf und schaute sich um. Er befand sich mitten auf einer Lichtung. Von dem Hügel war nichts zu sehen; das Gelände war überall flach. Nichts zeigte an, aus welcher Richtung er gekommen war oder wohin er zurückkehren sollte.
    Vor sich sah er die verbrannten Ruinen einer Synagoge.
    Das Gras drumherum war ebenfalls versengt, ein schwarzer Kreis auf der Erde. Die Mauern hatte das Feuer bis auf die Fundamente verzehrt, der Innenraum war schutzlos den Elementen ausgeliefert, herabgestürzte Balken ragten aus den Reihen der verkohlten Bänke.
    Vorsichtig stand er auf und betrat den Kreis aus verbranntem Gras. Vor der Stelle, wo die Tür gewesen war, blieb er stehen, dann machte er einen Schritt über die Schwelle. Es war das erste Mal seit siebzehn Jahren, dass er ein Gotteshaus betrat.
    Nichts regte sich. Eine unheimliche Stille herrschte im Inneren, die Geräusche der Welt draußen, das Zwitschern der Vögel, das Rascheln des Grases und das Zirpen der Insekten klangen gedämpft. Im Gang hob Schaalman eine Handvoll Holzasche auf und ließ sie durch die Finger rieseln – und ihm wurde klar, dass die Synagoge nicht erst in der Nacht zuvor abgebrannt sein konnte, denn die Asche war kalt. Hatte er alles nur geträumt? Was hatte ihn dann hierher geführt?
    Langsam ging er den Gang bis ganz nach vorn. Ein paar Balken aus der Decke versperrten ihm den Weg. Er fasste danach, und sie zerfielen unter seinen Händen.
    Das Lesepult war angesengt, aber nicht verbrannt. Von der Lade und der Thorarolle war nichts zu sehen; vermutlich waren sie gerettet oder aber zerstört worden. Auf dem Podium lagen verstreute Überreste von Gebetsbüchern herum. Er hob eine halbe braune Seite auf und las ein Fragment des
Kaddisch.
    Hinter dem Podium war eine Fläche, die einst ein kleiner Raum gewesen sein musste, wahrscheinlich das Studierzimmer des Rabbis. Er stieg über die halbhohe Mauer, die übrig geblieben war. Der Wind hatte verbranntes Papier über den Boden veteilt. Mitten im Raum stand als verkohlter ovaler Klotz der Schreibtisch des Rabbis. Auf der Vorderseite befand sich eine Schublade. Schaalman langte nach dem Griff und hielt den Beschlag samt Schloss in der Hand. Als er den Finger in das Loch steckte und zog, zerbrach die Vorderseite der Schublade in kleine Stücke. Er fasste hinein und holte die Überreste eines Buchs heraus.
    Behutsam legte er es auf den Schreibtisch. Der Rücken des Buchs fehlte, sodass man es eigentlich nicht länger ein Buch nennen konnte, vielmehr war es ein Stapel angesengter Seiten. Am Einband hingen Lederfetzen. Er nahm den Einband ab und legte ihn auf die Seite.
    Das Feuer hatte sich vom Schnitt nach innen gebrannt, sodass sich auf jeder Seite nur eine Insel unbeschädigter Schrift befand. Das Papier war dick wie Stoff, die Handschrift kritzelig und die Sprache ein altmodisches pompöses Jiddisch. Mit zunehmender Verwunderung hob er mit kalten, zitternden Fingern eine Seite nach der anderen an. Bruchstückhafte Textschnipsel zogen an seinen Augen vorbei:
    … ein sicherer Zauber gegen Fieber ist das Aufsagen der von Galen

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