Golem und Dschinn: Roman (German Edition)
davonschleichen.« Er erzählte die auswendig gelernte Geschichte, ohne zu stocken.
»Aber wir hätten Ihnen helfen können! Es muss beängstigend gewesen sein, krank in einem fremden Land anzukommen und dann nur von Boutros als Krankenschwester gepflegt zu werden.«
Der Dschinn lächelte. »Er war eine hervorragende Krankenschwester. Und ich wollte niemand zur Last fallen.«
Maryam schüttelte den Kopf. »Sie müssen Ihren Stolz überwinden. Wir sind hier alle füreinander da, das ist unser Erfolgsrezept.«
»Da haben Sie natürlich recht«, sagte der Dschinn liebenswürdig.
Sie zog die Augenbrauen in die Höhe. »Und unseren geheimnistuerischen Mr. Arbeely hier, wie haben Sie ihn kennengelernt?«
»Letztes Jahr kam ich durch Zahleh und traf den Schmied, bei dem Arbeely gelernt hat. Als er gesehen hat, dass ich mich für das Handwerk interessiere, hat er mir von seinem Lehrling erzählt, der nach Amerika gegangen ist.«
»Und stell dir meine Überraschung vor«, mischte sich Arbeely ein, »als dieser halb tote Mann an meine Tür klopft und mich fragt, ob ich der Kupferschmied aus Zahleh bin!«
»Die Welt ist wirklich klein«, sagte Maryam kopfschüttelnd.
Arbeely musterte sie und suchte nach Anzeichen von Skepsis. Glaubte sie diese erfundene Geschichte tatsächlich? Viele Syrer waren auf seltsamen und verschlungenen Wegen nach New York gekommen – zu Fuß durch die kanadischen Wälder oder auf Lastkähnen aus New Orleans. Aber als er ihre Geschichte laut erzählt hörte, hielt Arbeely sie für zu außergewöhnlich. Und der Dschinn war weder so blass noch so schwach wie jemand, der ernsthaft krank gewesen war. Im Gegenteil, er sah aus, als könnte er schwimmend den East River durchqueren. Doch es war zu spät, um ihre Geschichte noch zu ändern. Arbeely lächelte Maryam an und hoffte, dass das Lächeln natürlich wirkte.
»Sind Sie aus der Gegend von Zahleh?«, fragte Maryam.
»Nein, ich bin Beduine«, antwortete der Dschinn. »Ich war in Zahleh, um meine Schaffelle auf dem Markt zu verkaufen.«
»Wirklich?« Sie betrachtete ihn eingehend. »Wie erstaunlich. Ein Beduine, der als blinder Passagier nach New York reist. Sie müssen in mein Kaffeehaus kommen, alle werden Sie kennenlernen wollen.«
»Es wäre mir eine Ehre«, sagte der Dschinn. Er verneigte sich vor Maryam und kehrte ins Hinterzimmer zurück.
»So eine verrückte Geschichte«, sagte Maryam zu Arbeely, als er sie zur Tür brachte. »Offenbar hat er die Zähigkeit seines Volkes, wenn er es bis hierher geschafft hat. Aber ich muss mich noch immer über dich wundern, Boutros. Du hättest vernünftiger sein sollen. Was, wenn er in deiner Obhut gestorben wäre?«
Arbeely wand sich vor ungeheuchelter Verlegenheit. »Er hat darauf bestanden«, sagte er. »Ich wollte seinen Wunsch respektieren.«
»Dann hat er dich in eine schwierige Lage gebracht. Aber andererseits ist niemand stolzer als die Beduinen.« Sie warf ihm einen Blick zu. »Ist er wirklich Beduine?«
»Ich glaube schon«, antwortete Arbeely. »Er weiß wenig über Städte.«
»Wie merkwürdig«, sagte sie nahezu zu sich selbst. »Er scheint nicht …« Sie hielt inne, und ihr Gesicht umwölkte sich, doch gleich darauf war sie wieder ganz sie selbst und dankte Arbeely lächelnd für die Reparatur. Die Flasche sah in der Tat viel besser aus als zuvor; Arbeely hatte die Dellen geglättet, das Kupfer poliert und dann das verschnörkelte Band bis auf das kleinste Detail reproduziert. Sie zahlte und verabschiedete sich. »Du musst unbedingt mit Ahmad ins Kaffeehaus kommen. Alle werden wochenlang über nichts anderes reden.«
Doch der sofort einsetzenden Flut von Besuchern in Arbeelys Werkstatt nach zu urteilen, hatte Maryam keine Zeit verloren und die Geschichte von Arbeelys neuem Lehrling auf der Stelle verbreitet. Arbeelys kleine Kaffeekanne blubberte ständig auf dem Feuer, während das gesamte Viertel kam und ging und dem frisch angekommenen Beduinen vorgestellt wurde.
Gott sei Dank spielte der Dschinn seine Rolle gut. Er unterhielt seine Besucher mit Geschichten seiner angeblichen Überfahrt und der anschließenden Krankheit, sprach jedoch nie so lange, als dass er sich in Widersprüche verwickelt hätte. Stattdessen malte er mit groben Pinselstrichen das Bild eines Nomaden, der eines Tages aus einer Laune heraus beschloss, sich nach Amerika aufzumachen. Die Besucher verließen Arbeelys Werkstatt und schüttelten den Kopf angesichts dieses seltsamen Neuankömmlings, den Gott
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