Golem und Dschinn: Roman (German Edition)
streckte die Hand aus. Eine weitere Münze und eine weitere Schale. Er hatte die Beduinen gemieden, die am Rand von Homs, nahe der Wüste lebten. Er hielt sie für ein hartes Volk, arm und abergläubisch.
»Ich habe noch nie einen Beduinen getroffen«, sagte Maryam. »Er ist ein interessanter Mann. Er sagt, dass er sich auf dem Schiff versteckt hat, als wäre es ein Scherz, aber ich habe das Gefühl, es steckt mehr dahinter. Die Beduinen sind ein verschwiegenes Volk, stimmt’s?«
Saleh brummte etwas. Er mochte Maryam Faddoul – ja, man könnte sagen, dass sie seine einzige Freundin war –, aber er wünschte, sie würde aufhören, über den Beduinen zu reden. Sie weckte damit unangenehme Erinnerungen. Er kontrollierte die Eismaschine. Es waren nur noch drei Portionen übrig, »Wie viele noch?«, fragte er laut. »Abzählen, bitte.«
Kinderstimmen wurden laut:
Eins, zwei, drei, vier, hör auf zu drängeln. Ich war zuerst da, fünf, sechs.
»Nummern vier bis sechs, bitte kommt später wieder.«
Er hörte seine Möchtegern-Kunden aufstöhnen und ihre Schritte, als sie davonliefen. »Vergesst eure Plätze in der Schlange nicht«, rief Maryam ihnen nach.
Saleh bediente die restlichen Kinder und horchte auf das Geräusch, als sie die billigen Blechschälchen an ihren Platz auf dem Wagen zurückstellten, oben auf den Sack mit Steinsalz.
»Ich muss wieder hineingehen«, sagte Maryam. »Sayeed wird meine Hilfe brauchen. Guten Tag, Mahmoud.« Sie drückte seinen Arm – er sah kurz ihre Rüschenbluse und das dunkle Gewebe ihres Rocks –, und dann war sie verschwunden.
Er zählte die Münzen in seiner Tasche: genug, um die Zutaten für eine weitere Ladung Eis zu kaufen. Doch es war schon später Nachmittag, und vor die Sonne hatten sich Wolken geschoben. Bis er Milch und Eis gekauft und die Eiscreme hergestellt hätte, wären die Kinder nicht mehr so wild darauf. Am besten wartete er bis morgen. Er band die Sachen auf dem Wagen fest und begann langsam und mit gesenktem Kopf die Straße entlangzutrotten. Er schaute auf seine Füße, schwarze Schemen auf grauem Grund.
Seine Nachbarn wären schockiert gewesen, hätten sie erfahren, dass der Mann, den sie Eiscreme-Saleh oder den verrückten Mahmoud oder einfach
diesen komischen Muslim, der Eis verkauft
, nannten, einst Doktor Mahmoud Saleh gewesen war, einer der geachtetsten Ärzte in der Stadt Homs. Als Sohn eines erfolgreichen Kaufmanns war Saleh mit allen Annehmlichkeiten aufgewachsen, konnte lernen und studieren. Seine Schulnoten waren ausgezeichnet, und er wurde an der medizinischen Universität von Kairo angenommen, wo sich gerade die gesamte Disziplin unter seinen Augen zu verändern schien. Ein Engländer hatte entdeckt, dass man postoperativen Wundbrand vermeiden konnte, indem man die chirurgischen Instrumente einfach in eine Lösung aus Karbolsäure tauchte. Ein anderer Engländer konnte den unwiderlegbaren Zusammenhang von Cholera und verseuchtem Trinkwasser nachweisen. Salehs Vater, der sein Studium von ganzem Herzen unterstützt hatte, wurde zornig, als er erfuhr, dass sein Sohn in Kairo Leichen sezierte. Begriff Mahmoud denn nicht, dass am Tag des Jüngsten Gerichts diese entweihten Menschen unvollständig wiederauferstehen würden, mit aufgeschnittenen Körpern und sichtbaren Organen? Sein Sohn entgegnete trocken, falls Gott die Wiederauferstehung so wörtlich nähme, müsse die ganze Menschheit in einem so fortgeschrittenen Stadium der Verwesung zurückkommen, dass die Sektionsschnitte im Vergleich kaum auffallen würden. Tatsächlich hatte jedoch auch er Skrupel, was er aus Stolz aber nicht zugab.
Nach Abschluss seines Studiums kehrte Saleh nach Homs zurück und eröffnete eine Praxis. Die Lebensbedingungen seiner Patienten waren ihm ein immerwährender Dorn im Auge. Nicht einmal die wohlhabendsten Familien wussten etwas von moderner Hygiene. Krankenzimmer wurden nicht gelüftet, die Luft darin war verbraucht und stickig; er riss die Fenster auf und ignorierte den Protest. Manchmal kamen ihm sogar Patienten unter, die Verbrennungen an Armen oder Brust aufwiesen, eine längst in Verruf gekommene Praxis, die dem Körper schädliche Flüssigkeiten entziehen sollte. Dann behandelte und verband er die Wunden und beschimpfte die Familie, beschrieb ihnen die Gefahren von Entzündungen und Sepsis.
Auch wenn es ihm manchmal schien, er würde einen aussichtslosen Kampf führen, war Doktor Salehs Leben nicht ohne Freuden. Die Halbschwester seiner Mutter
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