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Golem und Dschinn: Roman (German Edition)

Golem und Dschinn: Roman (German Edition)

Titel: Golem und Dschinn: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helene Wecker
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pries ihm ihre Tochter an, die zu einer jungen, schönen und sanftmütigen Frau herangewachsen war. Sie heirateten und bekamen bald eine Tochter, ein süßes Mädchen, die ihre kleinen Füße auf Salehs große stellte, damit er mit ihr durch den Hof ging und wie ein Löwe brüllte. Als sein Vater starb und neben seiner Mutter ins Grab gelegt wurde, tröstete sich Saleh mit dem Wissen, dass der Mann trotz ihrer Meinungsverschiedenheiten stolz auf ihn gewesen war.
    Und so vergingen die Jahre, bis eines Abends ein reicher Landbesitzer an seine Tür klopfte. Er erklärte Saleh, dass eine Tochter der Beduinen-Familie, die sein Land bestellte, krank sei. Statt eines Arztes hätten die Eltern eine alte zahnlose Heilerin geholt, die die absonderlichsten Hausmittel verwende. Der Mann ertrug nicht, das Kind leiden zu sehen, und war bereit, Salehs Honorar zu übernehmen, wenn er das Mädchen untersuchte.
    Die Beduinen-Familie lebte in einer Hütte am Stadtrand, wo die sorgfältig bestellten Felder in Gestrüpp und Staub übergingen. Die Mutter des Mädchens begrüßte Saleh an der Tür. Sie war in mehrere Schichten schwarzer Kleidung gehüllt, Wangen und Kinn waren, wie bei ihrem Volk üblich, tätowiert. »Es ist ein
Ifrit
«, sagte sie. »Er muss ausgetrieben werden.«
    Saleh erwiderte, das Mädchen müsse gründlich medizinisch untersucht werden. Er hieß sie einen Topf mit abgekochtem Wasser holen und trat in die Hütte.
    Das Mädchen lag zuckend da. Die alte Heilerin hatte Kräuter im Zimmer verstreut, saß im Schneidersitz neben dem Mädchen und murmelte etwas vor sich hin. Saleh ignorierte sie und versuchte, das Mädchen so lange festzuhalten, dass er ein Augenlid zurückschieben konnte – und das gelang ihm in dem Moment, als die alte Frau ihren Singsang beendete und dreimal auf den Boden spuckte.
    Einen Augenblick lang glaubte er, in dem Auge des Mädchens etwas zu sehen, das ihn ansprang –
    Und dann war das Ding in seinem Kopf und versuchte herauszukrabbeln –
    Ein unerträglicher Schmerz durchfuhr seinen Kopf, und es wurde dunkel.
    Als Saleh wieder zu sich kam, hatte er Schaum vor dem Mund und einen Lederriemen zwischen den Zähnen. Er würgte und spuckte ihn aus. »Damit Sie sich nicht die Zunge abbeißen«, hörte er die Heilerin mit einer Stimme sagen, die hohl und weit entfernt klang. Er schlug die Augen auf – und sah neben sich eine Frau knien, deren Gesicht schmal und leer wirkte wie eine Zwiebelschale mit schwarzen Löchern, wo ihre Augen hätten sein sollen. Er schrie auf, wandte den Kopf ab und erbrach sich.
    Der Landbesitzer holte einen Kollegen von Saleh. Gemeinsam luden sie den halb bewusstlosen Mann auf einen Karren und brachten ihn nach Hause, wo der Arzt ihn gründlich untersuchte. Die Diagnose war nicht eindeutig: vielleicht eine Gehirnblutung oder eine latente Krankheit, die irgendwie zum Ausbruch gekommen war. Er konnte es nicht mit Sicherheit sagen.
    Von da an war es, als hätte Saleh sich aus der Welt zurückgezogen. Alles erschien ihm unwirklich. Seine Augen konnten nicht länger Entfernungen einschätzen: Er langte nach etwas, und es war nicht einmal annähernd in Reichweite. Seine Hände zitterten, und er konnte die Instrumente nicht ruhig halten. Gelegentlich hatte er einen Anfall, dann brach er zusammen und hatte Schaum vor dem Mund. Am schlimmsten aber war, dass er in kein menschliches Gesicht mehr blicken konnte, sei es das eines Mannes oder einer Frau, eines Fremden oder Vertrauten, ohne von überwältigendem Entsetzen gepackt zu werden.
    Wochen und Monate vergingen. Er versuchte, wieder als Arzt zu arbeiten, hörte sich Beschwerden an und stellte einfache Diagnosen. Doch er konnte seine Erkrankung nicht verbergen und verlor nach und nach alle Patienten. Die Familie lebte sparsam, aber nach ein paar Monaten waren ihre Ersparnisse aufgebraucht. Ihre Kleidung wurde schäbiger, das Haus verkam. Saleh verbrachte die Tage allein in einem abgedunkelten Zimmer und suchte in seinen Büchern, die er kaum noch lesen konnte, nach einer Erklärung.
    Seine Frau wurde krank. Anfangs versuchte sie es zu verheimlichen, doch dann bekam sie hohes Fieber. Saleh saß hilflos daneben, als seine früheren Kollegen ihre Hilfe anboten. Trotzdem ging es ihr immer schlechter. Eines Nachts verwechselte sie ihn im Fieberwahn mit ihrem längst verstorbenen Vater und bat um Eiscreme. Was sollte er tun? Im Schrank stand eine Eismaschine, die sie in besseren Zeiten gekauft hatten. Er rollte sie in die Küche

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