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Golem und Dschinn: Roman (German Edition)

Golem und Dschinn: Roman (German Edition)

Titel: Golem und Dschinn: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helene Wecker
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auswich, dass aber noch mehr dahintersteckte – unausgesprochene, weitreichende Details, Wünsche und ein großes Bedauern. Nicht zum ersten Mal spürte sie, dass sie ein Abgrund an Erfahrungen trennte: Er hatte sieben Jahrzehnte gelebt, und sie war gerade einmal einen Monat alt.
    »Und was eure Unterhaltung angeht«, fuhr der Rabbi in leichterem Tonfall fort, »so muss sie nicht lang dauern. Sie können erklären, um was für Gebäck es sich handelt. Zweifellos wird er Sie fragen, woher Sie kommen und wie lange Sie schon in der Stadt sind. Vielleicht sollten wir uns eine Geschichte ausdenken. Sie können ihm erzählen, dass Sie eine junge Witwe aus Polen sind, und dass ich mich als Ihr Betreuer betätige. Was der Wahrheit ja ziemlich nahe kommt.« Er lächelte, aber mit einer Spur Bedauern; und sie wusste, dass er etwas sagte, was er selbst nicht ganz glaubte.
    »Es tut mir leid«, sagte sie. »Sie sollten Ihren Neffen nicht anlügen müssen. Nicht meinetwegen.«
    Der Rabbi schwieg einen Augenblick. Dann sagte er: »Meine Liebe, mir wird allmählich klar, dass ich viele Dinge tun werde – um Ihretwillen tun
muss.
Aber das ist meine Entscheidung. Sie müssen mir gestatten, eine kleine Lüge im Dienst eines übergeordneten Wohls zu bedauern. Und Sie müssen lernen, das Gleiche zu tun, ohne sich deswegen unbehaglich zu fühlen.« Er hielt inne und fuhr dann fort: »Ich weiß noch nicht, ob Sie jemals ein normales Leben unter Menschen werden führen können. Aber Sie müssen wissen, dass Sie dafür jeden in Ihrer Bekanntschaft werden anlügen müssen. Sie dürfen niemandem erzählen, was sie in Wirklichkeit sind, niemals. Das ist eine Belastung und Verantwortung, die zu tragen ich keinem wünsche.«
    Sie schwiegen eine Weile bedrückt.
    »Daran habe ich auch schon gedacht«, sagte der Golem schließlich. »Vielleicht war es mir nicht so klar. Vermutlich wollte ich es nicht glauben.«
    Die Augen des Rabbis waren feucht geworden; doch er sprach mit fester Stimme. »Vielleicht wird es Ihnen mit der Zeit und mit Übung leichter fallen. Und ich werde Ihnen helfen, so gut ich kann.« Er wandte sich ab und wischte sich mit der Hand über die Augen; als er sie wieder ansah, lächelte er. »Aber jetzt wollen wir von etwas Erfreulicherem reden. Wenn ich Sie meinem Neffen vorstellen soll, muss ich ihm Ihren Namen nennen.«
    Sie runzelte die Stirn. »Ich habe keinen.«
    »Genau. Wir hätten Ihnen schon längst einen Namen geben sollen. Wollen Sie sich einen aussuchen?«
    Sie überlegte einen Moment. »Nein.«
    Der Rabbi erschrak. »Aber Sie brauchen einen Namen.«
    »Ich weiß.« Sie lächelte. »Aber Sie sollen ihn für mich aussuchen.«
    Der Rabbi wollte widersprechen; er hatte gehofft, dass der Akt, sich einen Namen zu geben, ihr zu mehr Selbstständigkeit verhelfen würde. Doch dann ermahnte er sich. Sie war auf so vielfältige Weise noch ein Kind, und von einem Kind erwartete man nicht, dass es sich einen Namen gab. Diese Ehre gebührte den Eltern. In dieser Hinsicht hatte sie die Bedeutung der Angelegenheit besser begriffen als er.
    »Nun gut«, sagte er. »Für ein Mädchen hat mir immer der Name Chava gut gefallen. Meine Großmutter, die ich sehr mochte, hieß so.«
    »Chava«, wiederholte der Golem. Das
Ch
war ein weicher, rollender Laut in der Kehle, das
ava
wie ein gesprochener Seufzer. Sie sagte ihn sich lautlos vor, prüfte ihn, während der Rabbi ihr amüsiert zusah.
    »Gefällt er Ihnen?«, fragte er.
    »Ja«, sagte sie, und es stimmte.
    »Dann gehört er Ihnen.« Er hob die Hände über ihren Kopf und schloss die Augen. »Gesegneter, der du unsere Vorväter beschützt und uns aus der Sklaverei geführt hast, wache über deine Tochter Chava. Mögen ihre Tage friedvoll und glücklich sein. Möge sie allen eine Hilfe, ein Trost und eine Beschützerin sein. Möge sie so klug und mutig sein, um auf dem Weg weiterzuschreiten, den du für sie auserwählt hast. Das sei der Wille des Allmächtigen.«
    Und der Golem flüsterte: »Amen.«

    Alles in allem war es keiner von Michael Levys besseren Tagen.
    Er stand hinter seinem mit Papieren übersäten Schreibtisch und fühlte sich gehetzt, weil er gleichzeitig auf ein Dutzend Krisen reagieren musste. In der Hand hielt er einen Brief, in dem er mit Bedauern davon in Kenntnis gesetzt wurde, dass die Damen, die sonntags immer ehrenamtlich putzten, selbiges nicht länger tun würden; ihre Frauenarbeitsliga hatte sich erst gespalten und dann aufgelöst und mit ihr das

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