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Golem und Dschinn: Roman (German Edition)

Golem und Dschinn: Roman (German Edition)

Titel: Golem und Dschinn: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helene Wecker
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wir wollen doch nicht, dass die Leute dich für einen Einsiedler halten. Bitte, komm mit und begrüße die Leute. Lächle ein- oder zweimal. Mir zuliebe.«
    Widerwillig kehrte der Dschinn mit Arbeely zur Feier zurück.
    Die Tische waren an die Wände geschoben worden, und eine Gruppe Männer tanzte in einem schnellen Kreis, die Arme um die Schultern der Nachbarn gelegt. Die Frauen scharten sich um sie, feuerten sie an und klatschten. Der Dschinn hielt sich im Hintergrund und schaute zwischen den Leuten hindurch zur Braut. Von allen Leuten auf der Feier erregte ausgerechnet sie sein Interesse. Sie war jung und hübsch und eindeutig sehr nervös. Das Essen auf ihrem Teller rührte sie kaum an, doch sie lächelte und sprach mit den Gratulanten, die zu ihrem Tisch kamen. Sam Hosseini saß neben ihr, aß, als wäre er am Verhungern, und stand immer wieder auf, um jeden mit einer Umarmung und einem Händedruck zu begrüßen. Sie hörte zu, wenn ihr Bräutigam sprach, und blickte voller Zuneigung zu ihm auf; aber gelegentlich sah sie sich um, als wollte sie beruhigt oder gerettet werden. Der Dschinn dachte daran, was Arbeely ihm erzählt hatte, dass sie erst ein paar Wochen in Amerika war und Hosseini ihr bei einem Besuch in der Heimat einen Antrag gemacht hatte. Und jetzt, dachte der Dschinn, war sie an einem neuen Ort, unsicher und umgeben von Fremden. Auf gewisse Weise wie er selbst. Eine Schande, dass sie laut Arbeely jetzt ausschließlich zu diesem Mann gehörte.
    Die Braut blickte sich noch immer im Raum um; die tanzenden Männer wirbelten zur Seite, und sie sah, dass der Dschinn sie beobachtete. Einen langen Augenblick schaute er ihr in die Augen. Dann blickte sie weg; und als sie den nächsten Gast begrüßte, waren ihre Wangen gerötet.
    »Ahmad, möchten Sie Kaffee?«
    Er drehte sich erschrocken um. Es war Maryam. Sie trug ein Tablett mit winzigen Tassen, gefüllt mit starkem, mit Kardamon gewürztem Kaffee. Sie lächelte ihr gewohntes gastfreundliches Lächeln; aber ihr Blick hatte etwas Warnendes. Sie hatte sein Interesse bemerkt. »Dann können Sie auf das Glück des Brautpaars trinken«, sagte sie.
    Er nahm eine Tasse vom Tablett. »Danke.«
    »Gern«, sagte sie und ging weiter.
    Er betrachtete die kleine Tasse mit Kaffee. So eine winzige Menge Flüssigkeit konnte ihm nicht schaden, und sie roch höchst interessant. Er trank sie mit einem Schluck aus, wie er es bei den anderen beobachtet hatte, und wäre fast erstickt. Der Kaffee war unglaublich bitter; es fühlte sich an, als hätte ihn jemand angegriffen.
    Er zuckte zusammen und stellte die Tasse auf einen Tisch. Für heute hatte er genug von menschlichen Festivitäten. Er sah zu Arbeely, schaute ihm in die Augen und deutete auf die Tür. Arbeely hob die Hand, als wollte er sagen,
warte noch einen Augenblick
, und wies auf den Tisch des frisch verheirateten Paars.
    Aber der Dschinn wollte dem neu vermählten Paar kein Glück wünschen. Er war nicht in der Stimmung, etwas zu sagen, was er nicht fühlte. Als Arbeely versuchte, ihn zu dem Tisch zu winken, tauchte er in der Menge unter, verließ das stickige Kaffeehaus und ging hinaus in die Stadt.
     
    Der Dschinn marschierte auf der Washington Street nach Norden und fragte sich, ob er jemals wieder wirklich allein sein würde. Die Wüste war ihm manchmal zu leer erschienen, aber dieses andere Extrem war noch schwerer zu ertragen. Die Straße war genauso bevölkert wie das Kaffeehaus. Familien drängten sich auf den Gehwegen und genossen das warme Wochenende. Und wo keine Menschen waren, standen Pferde, eine ganze stillstehende Parade davon: jedes Pferd vor einen Wagen gespannt, auf jedem Wagen saß ein Mann, jeder Mann schrie die anderen an, ihm den Weg frei zu machen – und das alles in zahllosen Sprachen, die der Dschinn nie zuvor gehört hatte, jedoch verstand. Allmählich wurde er seiner scheinbar unerschöpflichen Fähigkeit zu verstehen überdrüssig.
    Er hatte ein Ziel im Sinn. Ein paar Tage zuvor hatte Arbeely ihm eine Landkarte von Manhattan gezeigt und nebenbei auf ein langes grünes Loch in der Mitte der Insel gedeutet. »Central Park«, hatte Arbeely gesagt. »Er ist riesengroß, nichts außer Bäumen, Wiesen und Wasser. Eines Tages wirst du ihn sehen.« Dann hatte sich der Kupferschmied anderen Themen zugewandt wie zum Beispiel, wo man in die Hochbahn steigen konnte und welche Viertel besser zu meiden waren. Doch die offene grüne Fläche hatte die Aufmerksamkeit des Dschinns erregt. Er musste

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