Golem und Dschinn: Roman (German Edition)
Moe Radzin …«
»Ich weiß. Er ist so sauertöpfisch und unzufrieden wie eh und je. Aber zumindest ist er fair, und wenn er will, kann er auch großzügig sein. Wir kriegen unser gesamtes Brot billiger von ihm. Und seine Angestellten scheinen ihn zu respektieren. Außer Thea natürlich.«
Der Rabbi schnaubte. Thea Radzin war eine große Nörglerin, die Sorte Frau, die ein Gespräch mit der Aufzählung ihrer Zipperlein begann. Ihren weiblichen Angestellten vergraulte sie jeden Verehrer, indem sie ihm die Mängel des Mädchens auflistete.
Michael beharrte auf seinem Vorschlag, weil es sein Gewissen ein wenig erleichterte, wenn er seinem Onkel half. »Es gibt schlimmere Chefs als Moe Radzin. Und vielleicht wird er sich verpflichtet fühlen, Chava anständig zu behandeln, wenn er weiß, dass du ein Auge auf sie hast.«
»Vielleicht. Ich werde mit ihm sprechen. Danke, Michael.« Er drückte seinem Neffen die Schulter; und Michael sah mit plötzlicher Besorgnis, dass sein Onkel nie zuvor so erschöpft und müde ausgesehen hatte, nicht einmal als er noch mit der Last einer ganzen Gemeinde hatte fertigwerden müssen. Er hatte nie auf sich Rücksicht genommen. Und statt sich auszuruhen hatte er sich jetzt das Wohlergehen einer jungen Witwe zum Anliegen gemacht. Michael wollte ihm schon vorschlagen, dass eine der vielen Frauengruppen sich um sie kümmern könnte. Aber die Wohltätigkeitseinrichtungen für jüdische Frauen hatten noch weniger Mittel zur Verfügung als die für Männer.
Er verabschiedete sich von seinem Onkel und setzte sich an den Schreibtisch. Trotz der Sorge um die Gesundheit seines Onkels, hatte die Frau ihn fasziniert. Sie hatte ruhig und schüchtern gewirkt, aber ihr Blick hatte ihn aus der Fassung gebracht. Sie hatte ihm direkt in die Augen geschaut, ohne zu blinzeln, ein tiefer freimütiger Blick. Er verstand, was sein Onkel damit meinte, dass sie sich schützen musste, doch zugleich hatte Michael das Gefühl, dass
er
seine Seele offenbart hatte, nicht sie die ihre.
Der Aufenthaltsraum des Wohnheims war überraschend geräumig. Der Golem stand in der Ecke neben einem schäbigen Ohrensessel. Es war schon Vormittag, und die meisten Männer waren ausgegangen, um nach Arbeit oder einem Ort zum Beten zu suchen. Aber fast sechzig waren in den Schlafsälen zurückgeblieben, und von oben drückte das Gewicht ihrer Sorgen auf den Golem. Es erinnerte sie stark an die erste Nacht auf der
Baltika
, als die ungewohnte Umgebung die Ängste und Sehnsüchte der Passagiere verstärkt hatte. Sie hörte die gleichen wilden Hoffnungen, die gleichen Befürchtungen. In Michaels Büro war es nicht so schlimm gewesen, weil sie vollkommen auf die Herausforderung konzentriert gewesen war, mit einem Fremden zu sprechen und sich nicht zu verraten.
Sie wurde nervös. Wie lange brauchte der Rabbi noch? Gegen ihren Willen blickte sie zur Decke. Dort oben waren Hunger, Einsamkeit, Angst zu versagen, Hoffnung auf Erfolg, Heimweh oder Hunger auf einen riesigen Teller mit Roastbeef – und ein Mann, der vor der Toilette Schlange stand, wünschte sich nichts so sehr wie eine Zeitung, mit der er sich die Wartezeit verkürzen könnte …
Sie schaute zu dem Tisch im Raum. Eine Ausgabe des
Forverts
lag darauf und wollte genommen werden.
»Nein«
, sagte sie zu sich selbst, lauter als beabsichtigt. Sie verließ den Aufenthaltsraum und ging den langen dämmrigen Flur entlang. Sie würde an Michaels Tür klopfen und dem Rabbi sagen, dass sie gehen müssten, weil sie sich nicht wohlfühlte …
Zu ihrer Erleichterung wurde die Tür geöffnet, und der Rabbi und Michael kamen heraus und wechselten ein paar letzte Worte. Der Rabbi sah ihre angestrengte Miene und verabschiedete sich eilig. Endlich gingen sie den dunklen Flur entlang, an dessen Ende sie ein Rechteck voller Sonnenschein erwartete.
»Alles in Ordnung?«, fragte der Rabbi auf der Straße.
»Die Männer«, setzte sie an und konnte nicht weitersprechen: Ihre Gedanken waren zu schnell und bruchstückhaft. Sie versuchte, sich zu entspannen. »Sie wollen alle so viel«, sagte sie schließlich.
»War es zu viel für Sie?«
»Nein. Fast. Wenn wir noch länger geblieben wären.«
Das lautlose Getöse des Wohnheims wurde leiser und ging in den diffusen Geräuschen der Stadt unter. Ihre Gedanken verlangsamten sich. Sie schüttelte die Finger aus und spürte, wie die Anspannung nachließ. »Oben war ein Mann«, sagte sie, »der unbedingt eine Zeitung wollte. Ich habe im
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