Golem und Dschinn: Roman (German Edition)
und kalt, in der Spüle stapelte sich das Geschirr. Seit der Golem in einer Pension ein paar Blocks entfernt wohnte, war wieder der frühere Zustand der Vernachlässigung eingekehrt. Wie schnell er sich an die Anwesenheit einer Frau gewöhnt hatte. Er fühlte sich auf eigenartige Weise allein, ging jeden Abend zu Bett, ohne sie auf der Couch sitzen und durch das Fenster die Passanten betrachten zu sehen.
Trotzdem. Immer wieder fragte er sich, ob er nicht einen schrecklichen Fehler begangen hatte. In letzter Zeit lag er nachts wach und überlegte, was passieren würde, wenn der Golem dank seiner Sorglosigkeit jemanden verletzte oder entdeckt werden würde. Er stellte sich einen Mob vor, der über die Lower East Side hereinbrach und jüdische Familien auf die Straße trieb, Synagogen plünderte und alte Männer am Bart herumzerrte. Genau so ein Pogrom, wie sie glaubten, für immer hinter sich gelassen zu haben.
In diesen Momenten, versunken in diese entsetzlichen Gedanken, war er versucht, zu ihrer Pension zu gehen und sie zu zerstören.
Es wäre ein Leichtes: ein einziger, laut ausgesprochener Satz. Aber es gab nur noch wenige, die diesen Satz wussten, und er hatte ihn durch reinen Zufall gelernt. In seiner Jeschiwa hatte ein alter Kabbalist gelebt, der halb verrückt war und vertraut mit althergebrachten Überlieferungen. Der alte Mann mochte den sechzehnjährigen Avram und nahm ihn heimlich als Schüler an, deckte ihm Geheimnisse auf, die die anderen Rabbis zwar hin und wieder andeuteten, aber nicht wagten, wirklich zu behandeln. Der junge Avram war zu aufgeregt gewesen über seinen Sonderstatus, um darüber nachzudenken, ob dieses Wissen nicht eine Last, statt eines Geschenks werden könnte.
In einer der letzten Unterrichtsstunden hatte der alte Mann Avram einen Klumpen rotbraunen Lehm gegeben und ihn angewiesen, einen Golem zu erschaffen. Avram formte den Lehm annäherungsweise zu einem zwanzig Zentimeter großen Mann mit wurstförmigen Armen und Beinen, einem runden schweren Kopf, stecknadelkopfgroßen Augen und einem flachen Strich als Mund. Der alte Rabbi gab Avram einen Zettel, auf dem ein kurzer Satz stand. Avram sprach mit klopfendem Herzen die Worte. Sofort setzte sich das dunkle kleine Ding auf, schaute sich um, stand auf und begann zügig auf dem Tisch herumzugehen. Seine Beine waren krumm und hatten keine Gelenke, ein Bein war länger als das andere, und der kleine Golem bewegte sich torkelnd wie ein Matrose, der gerade erst an Land gegangen war. Er verströmte den nicht unangenehmen Geruch frisch umgegrabener Erde.
»Gib ihm Befehle«, forderte der alte Rabbi ihn auf.
»Golem!«, sagte Avram, und das marionettenartige Ding nahm augenblicklich Habachtstellung ein. »Spring dreimal auf und ab.« Der Golem machte drei kleine Hüpfer und erhob sich dabei ungefähr drei Zentimeter über die Tischplatte. Avram grinste vor Aufregung. »Fass dir mit der linken Hand an den Kopf«, sagte er, und der Golem tat es, ein Spielzeugsoldat, der vor seinem Befehlshaber salutiert.
Avram sah sich nach etwas anderem um, was der Golem tun könnte. In einer Ecke neben dem Tisch spann eine braune Spinne träge ein Netz zwischen zwei leeren Flaschen. »Bring die Spinne um«, sagte er und deutete darauf.
Der Golem sprang vom Tisch und fiel auf den Boden. Er rappelte sich auf und humpelte in die Ecke. Avram folgte ihm mit einer Kerze in der Hand. Die Spinne, die den Golem spürte, versuchte davonzukriechen; doch mit einem Satz war der Golem über der Spinne, warf die Flaschen um und erschlug die Spinne mit seiner kruden Faust. Avram sah zu, wie sein Geschöpf wieder und wieder auf die Spinne eindrosch, bis sie kaum mehr als ein feuchter Fleck auf dem Boden der Jeschiwa war. Und der Golem schlug immer noch zu.
»Golem, hör auf«, sagte Avram mit zitternder Stimme. Der Golem blickte kurz zu ihm auf, doch dann fuhr er fort, die Überreste der Spinne zu malträtieren.
»Hör auf«
, wiederholte er lauter, aber jetzt blickte der Golem nicht einmal mehr zu ihm auf. Avram fühlte Panik in sich aufsteigen.
Schweigend reichte ihm der alte Rabbi einen weiteren Zettel mit einem anderen Satz darauf. Dankbar nahm er ihn und las den Satz vor.
Der kleine Golem zerbarst mitten in der Bewegung. Lehmbröckchen rieselten zwischen den Flaschen auf die tote Spinne herunter. Dann herrschte wohltuende Stille.
»Wenn ein Golem Gefallen an Zerstörung entwickelt«, sagte der alte Rabbi, »kann ihn nichts aufhalten außer den Worten, die ihn
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