Golem und Dschinn: Roman (German Edition)
die unermüdliche Energie des Mädchens. Manchmal bewegten sich ihre Hände geradezu unwahrscheinlich schnell und formten mit unheimlicher Präzision Brötchen und Brezeln, die alle absolut gleich aussahen. Er hatte die zweite Stelle ebenfalls neu besetzen wollen, doch ein paar Tage, nachdem das Mädchen in der Bäckerei angefangen hatte, stellten sie so viele Waren her wie zuvor. Eine Arbeiterin weniger bedeutete mehr Bewegungsfreiheit, und sie sparten fast elf Dollar Lohn in der Woche. Radzin entschied, dass seine früheren Gehilfinnen noch mehr Zeit verschwendet hatten, als er gemutmaßt hatte.
Nur Anna ließ sich nicht überzeugen. Sie war in eine Depression verfallen, als ihre beiden Vertrauten kündigten, und jetzt schien dieses neue Mädchen zu glauben, dass es alle beide ersetzen konnte. Natürlich war die Geschichte des Mädchens wunderbar tragisch, aber sie verblasste angesichts seines verlegenen Schweigens und seines großtuerischen Eifers. Anna beobachtete sie bei der Arbeit und wusste, dass jetzt sie es war, die nicht mithalten konnte.
Anna wäre erfreut gewesen, hätte sie gewusst, dass der Golem nicht annähernd so selbstsicher war, wie sie wirkte. Sich als Mensch auszugeben war eine permanente Anstrengung. Als sie nach ein paar wenigen Wochen auf den ersten Arbeitstag zurückblickte, an dem sie sechs Stunden durchgearbeitet hatte, fragte sie sich, wie sie so sorglos, so naiv hatte sein können. Es fiel ihr allzu leicht, sich vom Rhythmus der Bäckerei, den Faustschlägen auf den Teig, dem Klingeln der Glocke über der Tür einlullen zu lassen. Es war zu einfach, sich einzufügen und anzupassen. Sie lernte, hin und wieder vorsätzlich einen Fehler zu machen und die Abstände zwischen den Gebäckstücken zu variieren.
Und dann waren da noch die Kunden, die einen eigenen Rhythmus hatten und eigene Komplikationen mitbrachten. Jeden Morgen um halb sieben wartete bereits eine kleine Schar, dass die Bäckerei öffnete. Ihre Gedanken zerrten am Golem: Sehnsucht nach dem Bett, das sie gerade verlassen hatten, oder nach den warmen Armen eines schlafenden Geliebten; die Angst vor dem beginnenden Tag, den Befehlen der Vorgesetzten und der mörderisch harten Arbeit. Und darunter die schlichte Vorfreude auf ein warmes Brötchen oder einen Bagel und vielleicht ein gezuckertes Plätzchen für später. Mittags kamen die Stammkunden auf der Suche nach einem Bialy mit Zwiebeln oder einer dicken Scheibe Brot. Frauen mit Kopftüchern und kleinen Kindern im Schlepptau blieben vor dem Fenster stehen und überlegten, was sie für das Abendessen kaufen sollten. Botenjungen mit schwer verdienten Pennys in der Hand schauten vorbei, um sie gegen eine Makrone oder ein Stück Honigkuchen zu tauschen. Junge Männer und Frauen bandelten in der Warteschlange heimlich miteinander an, erwähnten beiläufig eine Tanzveranstaltung, die eine Gewerkschaftsgruppe oder eine Landsmannschaft organisierte:
Wenn du nichts vorhast, kannst du ja auch kommen; na ja, ich habe heute Abend wahnsinnig viel zu tun, Frankie, aber vielleicht komme ich doch.
Der Golem hörte alles, die Worte und Bedürfnisse, die Wünsche und Ängste, die einfach oder kompliziert, schwierig oder leicht zu lösen waren. Die ungeduldigen Kunden waren am schlimmsten, die gehetzten Mütter, die nur einen Laib Brot und schnell wieder wegwollten, bevor ihre Kinder anfingen, um etwas Süßes zu betteln. Ein paarmal trat der Golem sogar vom Arbeitstisch zurück, um zu holen, was immer diese Frauen wollten, nur damit sie wieder gingen. Aber dann bremste sie sich, streckte die Finger und zog sie wieder ein – so wie eine andere Frau tief Luft holen würde – und ermahnte sich, achtsamer zu sein.
Anna und Mrs. Radzin wechselten sich an der Kundentheke ab. Insbesondere Mrs. Radzin war von beispielhafter Effizienz an der Theke und plauderte kurz mit den Kunden –
hallo, Mrs. Leib, heute eine Challa für Sie, und Ihre Mutter, geht’s ihr besser, oh, die Arme, mit Mohn oder ohne?
Sie arbeitete die Bestellungen ab, nahezu ohne hinzusehen, behielt die gläserne Auslage im Blick, während die Backwaren weniger wurden, und wusste im voraus, was am Nachmittag neu aufgefüllt werden musste. Nach zehn Jahren in der Bäckerei hatte die Frau ein so gut wie unfehlbares Gespür dafür, was an einem bestimmten Tag gefragt war und was nicht.
Anna dagegen konnte sich kaum merken, was im Angebot war, geschweige denn welche Waren zu Ende gingen. Ihr Talent war ein vollkommen anderes.
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