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Golem und Dschinn: Roman (German Edition)

Golem und Dschinn: Roman (German Edition)

Titel: Golem und Dschinn: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helene Wecker
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hatte. Als sie später dem Rabbi aufgeregt schilderte, was passiert war, wurde er ein bisschen rot, beglückwünschte sie zu ihrer Entdeckung und bat sie dann, es nicht wieder zu tun.
    Dass sie essen konnte, erwies sich als nützlich in der Bäckerei, als sie lernte, aufgrund von Geschmacksproben die Teigmischung zu verändern, und sie aß wie die anderen gelegentlich ein süßes Teilchen. Aber es fiel ihr schwer, diese Requisiten, den Umhang, den Toast und die schnell gegessenen Süßigkeiten, nicht als schmerzhaften Stich zu empfinden, als ständige Erinnerung an ihr Anderssein.
    Es war noch früh am Abend. Eine ganze Nacht erstreckte sich vor ihr. Sie öffnete den Kleiderschrank und nahm ihr graues Kleid heraus. Dann holte sie unter dem Bett ein Nähkästchen und eine Schere hervor. Sie setzte sich auf den Rohrstuhl und begann, das Kleid an den Nähten aufzutrennen. Innerhalb von Minuten war es zu einem Häufchen Stoff geworden. Die Knöpfe reihte sie gewissenhaft auf dem Tisch auf, um sie bis zum Schluss aufzuheben. Diese Beschäftigung hatte sie sich gesucht, kurz nachdem sie in die Pension gezogen war und einen so langweiligen Abend verbracht hatte, dass sie sich mit dem Zählen von Dingen die Zeit vertrieb. Sie zählte die Troddeln an ihrem Lampenschirm (achtzehn), die Bretter des Holzbodens (zweihundertsiebenundvierzig) und öffnete den Schrank auf der Suche nach weiteren zählbaren Dingen, als ihr Blick auf das Kleid fiel. Sie nahm es aus dem Schrank und studierte, wie es genäht war. Es erschien ihr einfach: die langen Streifen, die durch Nähte verbunden waren, die Abnäher, die dem Busen Form gaben. Ihre scharfen Augen betrachteten jedes Element, und dann machte sie sich an die Arbeit, trennte es auf und nähte es wieder zusammen.
    Das Nähen war eine angenehme Beschäftigung. Sie nähte das Kleid bedächtig wieder zusammen, damit sie länger zu tun hatte, ihre Stiche so klein und regelmäßig wie die einer Maschine. Als sie fertig war, war es fast vier Uhr morgens. Sie zog sich bis auf die Unterwäsche aus, schlüpfte in das Kleid und knöpfte es mit flinken Fingern zu. Sie strich es glatt und betrachtete sich im Fenster. Das Kleid war nicht sehr schmeichelhaft – es hing ihr locker von den Schultern, als wäre es für eine dickere Frau bestimmt –, aber es hatte wenig gekostet und schien sie angemessen zu kleiden. Sie zog es wieder aus, hängte es zurück in den Schrank und zog eine frische Bluse und einen neuen Rock an. Dann blies sie das Licht aus, legte sich aufs Bett, schloss die Augen und wartete, dass der Tag begann.

Kapitel  9
    D er Dschinn brauchte fast eine Woche, um sich von seinem Lauf durch den Regen zu erholen. Er arbeitete in der Werkstatt, als ob nichts geschehen wäre, aber er war blasser als gewöhnlich, bewegte sich langsamer und blieb immer in der Nähe der heißen Esse. Er erklärte, das Abenteuer sei die Tortur wert gewesen. Arbeely jedoch war wütend.
    »Du hättest erwischt werden können!«, brüllte der Kupferschmied. »Die Dienstboten des Mädchens hätten dich sehen können oder, schlimmer noch, ihre Familie! Was, wenn sie dich festgehalten und die Polizei gerufen hätten?«
    »Ich wäre geflüchtet«, sagte der Dschinn.
    »Ja, wahrscheinlich beeindrucken dich Handschellen oder eine Gefängniszelle wenig. Aber denk wenigstens an mich, wenn schon nicht an dich. Was, wenn dich die Polizei bis in meine Werkstatt verfolgt hätte? Dann hätten sie mich auch ins Gefängnis gesteckt. Und ich kann keine Eisengitter schmelzen, mein Freund.«
    Der Dschinn runzelte die Stirn. »Warum sollten sie denn
dich
verhaften?«
    »Verstehst du denn nicht? Die Polizei würde ganz Little Syria hinter Gitter sperren, wenn die Winstons es verlangen.« Er schlug die Hände vors Gesicht. »Mein Gott, Sophia Winston! Die ganze Stadt wird hinter uns her sein.« Ein Gedanke schoss ihm durch den Kopf. »Du willst doch nicht etwa noch einmal dorthin?«
    Der Dschinn lächelte. »Vielleicht. Ich weiß es noch nicht.« Arbeely stöhnte auf.
    Aber es war nicht zu leugnen, dass sich die Laune des Dschinns erheblich verbessert hatte. Er arbeitete schnell und begeistert. Nach der Begegnung – und möglicherweise der Gefahr – war er wieder mehr er selbst. Bald standen keine verbeulten Krüge und verbrannten Töpfe mehr in den Regalen des Hinterzimmers. Da sein Lehrling die Reparaturen erledigte, konnte Arbeely größere Aufträge für neues Kochgeschirr annehmen. Es wurde kühler, die Nächte wurden

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