Golem und Dschinn: Roman (German Edition)
Sie hatte festgestellt, dass die Arbeit hinter der Kundentheke auf ihre Weise so befriedigend war wie ein Auftritt auf der Bühne. Sie schenkte jedem ein Lächeln, machte den Frauen Komplimente, bewunderte die Männer und schnitt den Kindern Grimassen. Der Golem bemerkte, wie sich die Laune der Kunden besserte, wenn Anna sie bediente, und da wurde sie neidisch. Wie schaffte das Mädchen das? Hatte sie es gelernt, oder war es ihr angeboren? Sie versuchte sich vorzustellen, wie sie selbst in einem Raum voller Fremder plauderte und lachte und sich vollkommen wohl dabei fühlte. Es erschien ihr wie eine unerfüllbare Phantasie, wie wenn ein Kind sich Flügel wünscht.
Thea Radzin hatte bestimmt, dass das neue Mädchen erst einmal backen lernen musste, bevor es an der Theke arbeiten durfte, und deswegen musste der Golem in den ersten Wochen keine Kunden bedienen. Doch es kam unvermeidlicherweise ein Nachmittag, an dem Mrs. Radzin eine unerwartete Erledigung zu verrichten hatte und Anna die Toilette aufsuchen musste. Mr. Radzin wandte sich von den Öfen ab und und machte eine Kopfbewegung.
Na los.
Unsicher ging sie zur Theke. Eigentlich wusste sie, was zu tun war. Die Preise waren deutlich ausgezeichnet, und die Frage, ob sie mit Zahlen umgehen konnte, stellte sich überhaupt nicht: Sie konnte mit einem Blick sagen, wie viele Plätzchen auf einem Backblech lagen oder welchen Wert eine beliebige Anzahl Münzen in einer Hand hatte. Aber sie fürchtete sich davor zu sprechen. Sie stellte sich vor, wie sie einen schrecklichen unverzeihlichen Fehler beging und davonlief, um sich unter dem Bett des Rabbis zu verkriechen.
Die Erste in der Schlange war eine stämmige Frau mit einem selbstgestrickten Schultertuch, die den Blick über die Brotlaibe schweifen ließ. Hinter ihr drängten sich ein Dutzend Kunden, die alle auf den Golem schauten. Einen Augenblick lang verließ sie der Mut; doch dann riss sie sich zusammen und wandte ihre Aufmerksamkeit der Frau mit dem Schultertuch zu. Sofort wusste sie, was die Frau wollte, als hätte sie es bereits ausgesprochen:
ein Roggenbrot und ein Stück Strudel.
»Was wünschen Sie?«, fragte sie die Frau und kam sich dabei etwas lächerlich vor, da sie die Antwort bereits wusste.
»Ein Roggenbrot«, sagte die Frau.
Der Golem zögerte und wartete auf die zweite Hälfte der Bestellung. Doch die Frau sagte nichts weiter. »Und vielleicht noch ein Stück Strudel?«, fragte der Golem schließlich.
Die Frau lachte. »Sie haben bemerkt, dass ich hingeschaut habe, nicht wahr? Nein, ich muss auf meine Figur achten. Ich bin nicht mehr so schlank, wie ich einmal war.«
Ein paar andere Kunden lächelten. Verlegen holte der Golem das Roggenbrot. Anscheinend konnte sie nichts als gegeben voraussetzen – noch nicht einmal eine simple Bestellung in der Bäckerei.
Sie reichte der Frau das Brot und gab ihr das Wechselgeld. Die Frau fragte: »Sie sind neu, stimmt’s? Ich habe Sie hinten arbeiten sehen. Wie heißen Sie?«
»Chava«, antwortete der Golem.
»Sie sind erst kurz hier, nicht wahr? Keine Sorge, Sie werden bald eine richtige Amerikanerin sein. Nimm sie nicht so hart ran, Moses«, rief sie Mr. Radzin zu. »Sie sieht nicht so aus, aber sie ist ein zartes Persönchen. Ich sehe so was auf den ersten Blick.«
Radzin schnaubte. »Zartes Persönchen, so ein Quatsch. Sie kann in fünf Minuten ein Dutzend Challas flechten.«
»Wirklich?« Die Frau zog die Augenbrauen in die Höhe. »Dann musst du sie erst recht gut behandeln, oder?«
Er schnaubte noch einmal, sagte jedoch nichts mehr.
Die Frau lächelte freundlich. »Passen Sie auf sich auf, Chavaleh«, sagte sie und verließ mit ihrem Brot die Bäckerei.
Mit einem schweren Ranzen auf dem Rücken ging Rabbi Meyer langsam die Hester Street entlang nach Hause und ignorierte die schmutzigen Pfützen, in denen seine Schuhe zu versinken drohten. Es war später Nachmittag, und die Kälte und Feuchtigkeit hatten etwas Winterliches angenommen. Als es kalt geworden war, hatte er sich einen Husten geholt, der ihn plagte, als er jetzt die Treppen hinaufstieg. Noch besorgniserregender war, dass er bisweilen von einem merkwürdigen Schwindel befallen wurde und ihm schien, als wäre der Boden unter seinen Füßen verschwunden und er würde durch die Luft wirbeln. Es dauerte nur ein paar Sekunden, aber danach zitterte er und war erschöpft. Seine Kräfte verließen ihn genau in dem Augenblick, als er sie am dringendsten brauchte.
Seine Wohnung war leer
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