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Golem und Dschinn: Roman (German Edition)

Golem und Dschinn: Roman (German Edition)

Titel: Golem und Dschinn: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helene Wecker
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konnten nur darum beten, dass Meyers schreckliches Problem schnellstmöglich gelöst würde.
    Der Rabbi stellte Wasser für seinen Tee auf, und machte sich ein karges Abendessen: Challa mit Schmalz, ein Stückchen Hering, ein bisschen süßsauer eingelegtes Gemüse, einen Tropfen Schnaps für später. Er hatte eigentlich keinen Hunger, doch er brauchte Kraft. Er aß langsam, klärte seine Gedanken, bereitete sich vor. Dann stellte er das Geschirr beiseite, schlug das erste Buch auf und begann zu arbeiten.

    Um sechs Uhr drehte Thea Radzin das Schild im Fenster der Bäckerei von
Geöffnet
auf
Geschlossen.
Der Teig für den nächsten Tag war vorbereitet, der Boden gewischt, die Tische waren gesäubert. Die übrig gebliebenen Waren waren beiseitegeräumt; sie würden morgen billiger verkauft. Endlich verließen die Radzins, Anna und der Golem die Bäckerei durch die Hintertür und gingen ihrer Wege.
    Die Pension, in der der Golem wohnte, war ein knarzendes Haus aus Holz, das dem Abriss irgendwie entgangen war. Es stand zwischen den modernen Wohnblocks in der Broome Street, eine alte Dame eingezwängt zwischen zwei schwergewichtigen Rowdys. Der Golem öffnete leise die Haustür, ging an dem feuchten, ungemütlichen Wohnzimmer vorbei und die Treppe hinauf. Ihr Zimmer befand sich im zweiten Stock und überblickte die Straße. Es war nicht größer als das Wohnzimmer des Rabbis, aber es war ihr Zimmer, was sie aufgeregt, stolz und zugleich einsam machte. Es standen ein schmales Bett darin, ein kleiner Tisch zum Schreiben, ein Rohrstuhl und ein winziger Kleiderschrank. Sie hätte lieber ein Zimmer ohne Bett gehabt, da sie es nicht brauchte, aber ein Zimmer ohne Bett hätte sicherlich Fragen aufgeworfen.
    Für das Zimmer zahlte sie sieben Dollar in der Woche. Für jedes andere arbeitende Mädchen mit ihrem Lohn wäre das so gut wie unmöglich gewesen. Aber der Golem hatte keine anderen Ausgaben. Sie kaufte nichts zu essen und ging nie aus außer in die Bäckerei und einmal in der Woche zum Rabbi. Nur ihre Garderobe hatte sie aufgefüllt. Neben ihrem alten grauen Wollkleid besaß sie jetzt ein paar Blusen und Röcke. Zudem hatte sie einen Satz Damenunterwäsche gekauft und, als es kälter wurde, einen wollenen Umhang. Sie fühlte sich seltsam schuldig, nicht nur, weil sie Geld für die Kleidung ausgegeben hatte, sondern auch, weil ihre Vermieterin sie für sie wusch. Sie brauchte die Sachen nicht wirklich. Vor allem der Umhang diente nur dazu, den Schein zu wahren. Sie spürte zwar die feuchte Oktoberkälte, aber sie machte ihr nichts aus; es war nur eine weitere Empfindung. Der Umhang jedoch juckte sie im Nacken und schränkte die Beweglichkeit ihrer Arme ein. Sie wäre lieber nur in Rock und Bluse auf die Straße gegangen.
    Alle Pensionsgäste erhielten jeden Morgen ein kleines Frühstück, das vor der Tür abgestellt wurde: eine Tasse Tee, zwei Scheiben Toast und ein gekochtes Ei. Den Tee goss sie ins Waschbecken im Bad, wenn niemand in der Nähe war, den Toast und das Ei wickelte sie in Wachspapier und gab sie dem ersten hungrigen Kind, dem sie auf dem Weg in die Bäckerei begegnete. Sie musste das nicht tun; sie konnte nämlich essen, wie sie festgestellt hatte. An einem der letzten Abende in der Wohnung des Rabbis hatte sie aus Langeweile und Neugier ein kleines Stück Brot gegessen. Sie saß am Tisch und starrte es an, nahm allen Mut zusammen und schob es sich vorsichtig in den Mund. Es lag seltsam schwer auf ihrer Zunge. Wasser lief ihr im Mund zusammen. Es schmeckte, wie es roch, nur intensiver. Sie öffnete und schloss den Mund, und das Brot wurde feucht und zerfiel in kleine Stückchen. Es schien zu funktionieren, aber wie konnte sie sicher sein? Sie kaute, bis außer Brei nichts übrig war, schob es im Mund ganz nach hinten und bemühte sich, es zu schlucken. Das Brot glitt in ihrem Hals hinunter, ohne auf Widerstand zu stoßen. Sie blieb stundenlang am Tisch sitzen, etwas nervös in Erwartung von
irgendetwas.
Doch zu ihrer leichten Enttäuschung verging die Nacht ohne Zwischenfälle. Am nächsten Nachmittag spürte sie allerdings einen merkwürdigen Krampf im Unterleib. Sie wollte die Wohnung nicht verlassen – in den Fluren hielten sich immer die Nachbarn auf, und der Rabbi war ausgegangen –, holte eine große Schüssel aus der Küche, hob den Rock hoch, zog die Unterhose herunter und schied in die Schüssel ein wenig Brotbrei aus, der sich anscheinend auf der Reise durch ihren Körper nicht verändert

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