Golem und Dschinn: Roman (German Edition)
trampelten Abfallhaufen platt, den Rücken gegen den Wind gerundet. Schmieriger Rauch stieg aus den Tonnen am Straßenrand, wo Lumpensammler und Botenjungen ihre Hände wärmten, bevor sie weiterzogen. Doch in der Bäckerei herrschte eine ganz andere Atmosphäre. Der kalte Wind wurde an der Tür zurückgehalten von der enormen Hitze, die die beiden Backöfen am Ende des Ladens ausstrahlten. Während die Kunden zitternd und mit den Füßen stampfend eintraten, arbeitete Moe Radzin in Hemdsärmeln und mit Schürze an den Öfen, sein breiter Rücken vom Schweiß dunkel gefärbt. In der Mitte des Ladens standen zwei große Holztische, die immer mit Mehl bestäubt waren. Hier mischten, kneteten, rollten und flochten Thea Radzin und ihre Gehilfinnen den Teig. Die Verkaufstheke erstreckte sich fast über die gesamte Breite der Bäckerei und die Auslage war voll mit Roggen- und Weizenlaiben und Brötchen, süßem Gebäck und Makronen, honigsüßem Strudel, gefüllt mit Rosinen. Die allgemeine Meinung war, dass Radzins Brot seinen Preis wert war, doch das Gebäck galt als das beste im ganzen Viertel.
Die Bäckerei hatte ihren täglichen Rhythmus. Um fünf Uhr morgens schloss Moe Radzin die Vordertür auf, kehrte die Asche aus den Öfen, legte Kohle nach und schürte an. Um halb sechs kam Thea mit den beiden Kindern, Selma und dem kleinen Abie, die ganz verschlafen herumwankten. Sie deckten den Teig ab, der die Nacht über gegangen war, klopften ihn platt und formten die ersten Laibe des Tages. Um sechs kamen die Gehilfinnen: die junge Anna Blumberg und Chava, das neue Mädchen.
Anna Blumberg stürzte ihre Arbeitgeber des öfteren in Fassungslosigkeit. Sie war die Tochter eines Schneiders, hatte mit sechzehn Cincinnati verlassen und war allein nach New York gefahren. Sie hatte vor, dem Jiddischen Theater beizutreten und die nächste Sara Adler zu werden, doch die eigentliche Attraktion war die Stadt selbst; nachdem sie zweimal erfolglos vorgesprochen hatte, zuckte sie die Achseln, gab auf und suchte sich eine Arbeit. Die Radzins hatten sie genommen, und sie hatte schnell Freundschaft mit den beiden anderen Gehilfinnen geschlossen. Es war ein größerer Schlag für Anna, als die jungen Frauen gekündigt hatten, eine gleich nach der anderen.
Was Radzin anbelangte, waren die Kündigungen ein zweifelhafter Segen: Ihm fehlten einerseits Arbeitskräfte, andererseits musste er nicht länger die endlosen Klatschgeschichten und Koketterien der Mädchen ertragen. Als bald darauf sein alter Rabbi mit einem großen, ernst dreinblickenden Mädchen kam, das einen Teller mit hausgemachtem Gebäck trug, war er nicht sicher, ob er diese neue Entwicklung als Segen oder als Fluch betrachten sollte.
Radzin war niemand, der sich lange mit Zweifeln aufhielt. Er blickte von dem Mädchen zum Rabbi und entschied, dass Meyers Geschichte zumindest teilweise gelogen war. Das Mädchen schien tatsächlich in finanziellen Schwierigkeiten zu stecken – ihre Kleidung war billig und saß schlecht, sie trug überhaupt keinen Schmuck –, aber der tote Ehemann war erfunden oder aber unerheblich. Aller Wahrscheinlichkeit nach war sie die verarmte Geliebte des Rabbis. Doch spielte das eine Rolle? Männer hatten Bedürfnisse, auch heilige Männer. Wichtiger war, dass der Rabbi ihm einen Gefallen schuldete, wenn er sie einstellte. Und außerdem war ihr Gebäck ausgezeichnet.
Bald war klar, dass das Mädchen ein Glücksfall war. Sie arbeitete hingebungsvoll und schien nie müde zu werden. Anfangs mussten sie sie daran erinnern, hin und wieder eine Pause zu machen. »Wir sind keine Sklaventreiber, meine Liebe«, sagte Thea Radzin am ersten Tag zu ihr, nachdem das Mädchen sechs Stunden ohne Pause durchgearbeitet hatte. Das Mädchen hatte verlegen gelächelt und gesagt: »Entschuldigung. Mir gefällt die Arbeit einfach so gut, dass ich gar nicht aufhören will.«
Thea, die normalerweise schnell etwas an den von ihrem Mann eingestellten Mädchen auszusetzen hatte, mochte sie von Anfang an. Thea Radzin war eine Frau mit harter Schale und weichem Kern, und die Geschichte der jungen Witwe sprach ihre empfindsame Seele heftig an. Eines Abends machte Moe Radzin den Fehler, seinen Verdacht zu äußern, das Mädchen und der Rabbi hätten ein Verhältnis, woraufhin seine Frau ihn lange und vehement tadelte für seinen Zynismus, sein Misstrauen und anschließend für seinen Charakter im allgemeinen. Danach behielt Radzin seine Theorie für sich. Doch auch er bewunderte
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