Golem und Dschinn: Roman (German Edition)
zu versorgen hat? Würde das Ihre Entscheidung nicht beeinflussen?«
Der Rabbi seufzte. »Ja, ich nehme an, das würde es. Aber wenn ich diese Dinge nicht wüsste, wie es oft der Fall ist, dann sehe ich nur zwei Töpfe vor mir, einen großen und einen kleinen. Und mehr weiß Radzin auch nicht. Und bitte, Chava, hör auf, hin und her zu gehen. Mir wird schwindlig davon.«
Sie blieb auf der Stelle stehen, setzte sich auf einen Stuhl und schaute auf ihre Hände, die in ihrem Schoß zuckten. »Vielleicht sollte ich verschenken, was ich nicht brauche«, sagte sie. »Oder« – ihre Miene hellte sich auf – »ich könnte es Ihnen geben.«
Sofort sah sie, wie der Rabbi zurückschreckte. »Nein, Chava. Es ist dein Geld, nicht meins.«
»Aber ich brauche es nicht!«
»Vielleicht jetzt nicht, aber man muss immer an die Zukunft denken. Ich lebe lang genug, um zu wissen, dass du es irgendwann brauchen wirst, wahrscheinlich dann, wenn du überhaupt nicht damit rechnest. Geld ist ein Mittel zum Zweck, und du kannst viel Gutes damit tun, für andere und für dich.«
Das klang wie ein guter Rat, aber der Golem war noch nicht völlig beschwichtigt. In letzter Zeit waren alle Antworten des Rabbis so gewesen – zwar betrafen sie ihre konkreten Fragen, bezogen sich jedoch noch dazu auf etwas Größeres, das erst noch kommen sollte. Ihr war nicht wohl dabei. Sie hatte das Gefühl, als ob er versuchte, ihr so viel wie möglich in kürzester Zeit beizubringen. Sein Husten war nicht schlimmer geworden, aber auch nicht besser, und ihr war aufgefallen, dass die Kleider an ihm herunterhingen, als wäre er geschrumpft. Der Rabbi beharrte darauf, dass alles war, wie es sein sollte. »Ich bin ein alter Mann, Chava«, hatte er gesagt. »Der menschliche Körper ist wie ein Stück Stoff. So sehr man ihn auch pflegt, mit dem Alter franst er aus.«
Und was ist mit dem Körper eines Golems?
wollte sie fragen.
Angeblich werde ich nicht altern – aber werde ich ausfransen?
Doch sie hatte sich zurückgehalten. Sie befürchtete, dass Fragen wie diese sie beide zu sehr belasten würden.
»Und nach allem, was du mir über diese Anna erzählt hast, klingt sie nicht wie eine sehr ernsthafte Person. Vielleicht kann sie von dir etwas lernen, auch wenn es ihr nicht leichtfällt.«
»Vielleicht«, sagte der Golem. »Sie scheint mir nicht mehr so übelzuwollen wie zuvor. Aber zurzeit denkt sie vor allem an ihren neuen Verehrer. Sie hofft, dass er sie von der Bäckerei abholen und nach Hause bringen wird, damit sie –« Sie biss sich gerade noch auf die Zunge.
»Ja.« Der Rabbi war ein bisschen rot geworden. »Sie ist ein dummes Mädchen, falls sie sich ihm vor der Hochzeit hingegeben hat. Oder zumindest vor einem Eheversprechen.«
»Warum?«, fragte der Golem.
»Weil sie alles zu verlieren hat. Die Ehe hat viele Vorteile, und einer davon ist der Schutz des Kindes, und sie wird aufgrund … ihres Verhaltens wahrscheinlich eins bekommen. Ein unverheirateter Mann kann eine Frau verlassen, in welchem Zustand sie sich auch befinden mag, ohne dass er die Folgen fürchten muss. Und die Frau? Sie muss die Last eines Kindes tragen und kann vielleicht weder sich selbst noch das Kind ernähren. Frauen in so einer Situation haben aus Verzweiflung die schrecklichsten Verbrechen begangen und allen Anstand verloren, den sie vielleicht noch hatten. Und dann ist es nicht mehr weit zu Krankheit, völliger Verarmung und Tod. Es ist nicht übertrieben zu behaupten, dass eine Nacht des Vergnügens eine junge Frau das Leben kosten kann. Als Rabbi habe ich das viel zu oft erlebt, sogar in den besten Familien.«
Aber sie wirkt so glücklich
, dachte der Golem.
Der Rabbi stand auf und räumte den Tisch ab, hustete ein-, zweimal. Der Golem half ihm, und gemeinsam und schweigend spülten sie das Geschirr. »Rabbi, darf ich Sie etwas fragen?«, sagte sie nach einer Weile. »Es könnte Sie in Verlegenheit bringen.«
Der Rabbi lächelte. »Ich werde mein Bestes tun, aber erwarte keine Wunder von mir.«
»Wenn der Liebesakt so gefährlich ist, warum riskieren die Menschen dann so viel dafür?«
Der Rabbi schwieg eine Zeit lang. Dann sagte er: »Wenn du raten müsstest, was würdest du sagen?«
Der Golem dachte an alles, was sie über dieses Verlangen wusste, die nächtliche Lust der Passanten auf den Straßen. »Die Gefahr erregt sie, und es ist aufregend, vor dem Rest der Welt ein Geheimnis haben.«
»Das ist ein Aspekt, aber nicht alles«, erwiderte der Rabbi. »Du
Weitere Kostenlose Bücher