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Golem und Dschinn: Roman (German Edition)

Golem und Dschinn: Roman (German Edition)

Titel: Golem und Dschinn: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helene Wecker
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Er Adam mit seinem göttlichen Atem beseelt hatte. Und der Golem war das Geschöpf eines Menschen, nicht Gottes. Sollte sie eine Seele haben, konnte sie nur unvollständig, ein Fragment sein. Wenn er sie in Staub verwandelte, wäre es ein unbefugter Akt der Zerstörung; es wäre jedoch kein Mord.
    Doch was ihm die Schriften versicherten, verblasste, wenn er es mit dem Golem in Person zu tun hatte: ihre Enttäuschungen und Triumphe, ihre deutliche Sorge über seine schlechte Gesundheit. Sie sprach angeregt über ihre Arbeit in der Bäckerei und ihre wachsende Selbstsicherheit gegenüber den Kunden; und er sah keinen lebenden Klumpen Lehm vor sich, sondern eine junge Frau, die lernte, in der Welt zu leben. Wenn es ihm gelänge, sie an einen neuen Meister zu binden, würde er ihr alles nehmen, was sie erreicht hatte. An die Stelle ihres freien Willens würden die Befehle ihres Meisters treten. War das nicht auch eine Art Mord? Und wenn es wirklich darauf ankäme, hätte er die Kraft, es zu tun?
    Als er sein Haus erreichte, waren seine Schritte nur noch ein Schlurfen. Die Treppe reichte weit hinauf in die Dunkelheit. Eine Stufe nach der anderen stieg er hinauf, hielt sich mit der feuchten Hand am Geländer fest. Auf halber Höhe begann er zu husten, und als er vor seiner Tür stand, konnte er nicht mehr damit aufhören.
    Mit Mühe steckte er den Schlüssel ins Loch, mit zitternden Händen zündete er die Lampe an. Er ging in die Küche, um Wasser zu trinken, doch der Husten wurde stärker und schüttelte seinen ganzen Körper. Er beugte sich vor, schlug sich dabei fast den Kopf an der Spüle an. Schließlich ließen die Krämpfe nach und hörten auf. Er setzte sich auf den Boden und atmete flach, den Geschmack von Blut im Mund.
    Er hatte seinen Arzt vor nicht einmal einer Woche gebeten, bei ihm vorbeizuschauen.
Ein bisschen Husten
, hatte der Rabbi gesagt.
Ich wollte nur, dass Sie nachsehen.
Der Doktor hatte minutenlang die Brust und den Rücken des Rabbis mit seinem kalten Stethoskop abgehört, und seine Miene wurde dabei immer undurchdringlicher. Schließlich hatte er das Instrument wortlos in einer abgewetzten Ledertasche verstaut.
Wie lange noch?
, hatte der Rabbi gefragt.
Höchstens ein halbes Jahr
, hatte der Doktor erwidert und sich weinend abgewandt. Noch eine Angst, die er vor dem Golem verbergen musste.
    Er trank einen kleinen Schnaps, um sich zu beruhigen, und stellte Wasser für Tee auf. Seine Hände zitterten nicht mehr ganz so heftig. Gut. Er hatte zu arbeiten.

Kapitel  11
    D ie lange Serie verregneter Nächte war unerträglich geworden, und der Dschinn gab nach und tat, was er geschworen hatte, nie zu tun: Er kaufte einen Regenschirm.
    Arbeely hatte ihm diesen Vorschlag gemacht, in erster Linie um selber nicht wahnsinnig zu werden. Nach fast drei Wochen Regen war der Dschinn als Mitarbeiter unerträglich geworden; er war mürrisch und zerstreut und neigte dazu, schwelende Eisen herumliegen zu lassen. »Du siehst aus, als wolltest du gleich aus der Haut fahren«, sagte Arbeely. »Warum kaufst du dir nicht einfach einen Regenschirm, statt jeden Abend in deiner Wohnung zu sitzen?«
    »Ich dachte, du siehst nicht gern, wenn ich nachts unterwegs bin«, sagte der Dschinn.
    »Stimmt. Aber das ist immer noch besser, als wenn du die Werkstatt abfackelst oder wir uns gegenseitig an die Kehle gehen. Kauf dir einen Regenschirm.«
    »Ich brauche keinen«, sagte der Dschinn.
    Arbeely lachte. »Wenn jemand einen Schirm braucht, dann du.«
    Dennoch war er schockiert, als der Dschinn ein paar Tage später aus dem morgendlichen Nieselregen in die Werkstatt spazierte und einen mitternachtsblauen Seidenschirm ausschüttelte, der einem West-Side-Dandy besser angestanden hätte als einem syrischen Immigranten.
    »Woher hast du denn
den
?«, fragte Arbeely.
    »Aus einem Pfandhaus in der Bowery«, antwortete der Dschinn.
    Arbeely seufzte. »Das hätte ich mir denken können. Haben sie das Blut abgewaschen?«
    Der Dschinn ignorierte diese Bemerkung, drehte den Schirm um und hielt ihn Arbeely hin. »Schau«, sagte er. »Was hältst du davon?«
    Der Griff war aus einem dunklen feinkörnigen Hartholz gefertigt. Die letzten zwanzig Zentimeter waren mit filigranem Silber ummantelt, ein spiralförmiges Gitterwerk aus Blättern und Ranken.
    »Es ist wunderschön«, sagte Arbeely und hielt den Griff ins Licht. »Das hast du gemacht? Wie lange hast du dafür gebraucht?«
    Der Dschinn lächelte. »Zwei Nächte. Ich habe so einen in einem

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