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Golem und Dschinn: Roman (German Edition)

Golem und Dschinn: Roman (German Edition)

Titel: Golem und Dschinn: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helene Wecker
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hast die Einsamkeit vergessen. Wir sind alle irgendwann einmal einsam, gleichgültig wie viele Menschen um uns sind. Und dann begegnen wir jemandem, der das zu verstehen scheint. Sie lächelt, und für einen Augenblick ist die Einsamkeit weg. Dazu kommt die Wirkung körperlichen Verlangens – die Erregung, von der du gesprochen hast –, und man wirft den gesunden Menschenverstand und sein Urteilsvermögen über Bord.« Der Rabbi hielt inne und fuhr dann fort: »Aber Liebe, die nur auf Einsamkeit und Verlangen gründet, brennt nieder wie ein Strohfeuer. Eine gemeinsame Geschichte, Traditionen und Werte verbinden zwei Menschen dauerhafter als ein körperlicher Akt.«
    Sie schwiegen eine Weile, und der Golem dachte über das Gesagte nach. »Dann versteht man das unter wahrer Liebe?«, fragte sie. »Traditionen und Werte?«
    Der Rabbi kicherte. »Das ist vielleicht zu einfach. Ich bin ein alter Mann, Chava, und Witwer. Ich habe das alles vor Jahren hinter mir gelassen. Aber ich erinnere mich noch, wie es war, jung zu sein und zu glauben, dass es außer der Geliebten niemanden sonst auf der Welt gibt. Erst im Rückblick habe ich begriffen, was einen Mann und eine Frau wirklich verbindet.«
    Er versank in Erinnerungen und schaute auf das Geschirrtuch in seiner Hand. Im Licht der Küchenlampe sah seine Haut bleich und fleckig aus, dünn wie eine Eierschale. War er schon immer so zerbrechlich gewesen? Rotfeld hatte so ausgesehen, dachte sie, blass und schweißbedeckt im Schein der Petroleumlampe. Sie hatte immer gewusst, dass sie den Rabbi überleben würde, aber jetzt traf sie die nackte Wahrheit eiskalt. Ein schmerzhafter Stich durchfuhr sie, und das Glas, das sie in der Hand hielt, zerbrach.
    Beide erschraken über das Geräusch. Durchsichtige Scherben fielen glitzernd zu Boden.
    »Oh, nein«, sagte der Golem.
    »Das macht nichts«, beruhigte der Rabbi sie. Er bückte sich, um mit dem Geschirrtuch die Scherben zusammenzuschieben, doch der Golem nahm es ihm ab und sagte: »Ich habe es zerbrochen. Und Sie könnten sich schneiden.«
    Der Rabbi sah zu, wie sie die Splitter zusammenfegte und das Geschirr in der Nähe noch einmal spülte. »Ist irgendetwas passiert?«, fragte er leise.
    Sie schüttelte den Kopf. »Ich habe einfach nicht aufgepasst. Es war ein langer Tag.«
    Er seufzte. »Es ist spät. Wenn wir mit dem Geschirr fertig sind, bringe ich dich nach Hause.«
    Es war fast elf, als sie zu ihrer Pension aufbrachen. Die Luft war frisch, und es wehte ein schneidender Wind. Der Golem hielt sich aufrecht, als wäre es kaum mehr als eine Brise. Der Rabbi ging mit hochgezogenen Schultern neben ihr und hustete hin und wieder in seinen Schal.
    »Kommen Sie mit hinein, um sich aufzuwärmen«, sagte sie an der Treppe.
    Er schüttelte lächelnd den Kopf. »Ich muss zurück. Gute Nacht, Chava.«
    »Gute Nacht, Rabbi.« Und sie sah ihm nach, einem kleinen alten Mann auf einer windigen Straße.

    Der Heimweg war eine Qual für den Rabbi. Der Wind blies ihm ins Gesicht und drang durch seinen Mantel und seine dünne Hose. Er zitterte wie ein halb erfrorenes Tier. Aber zumindest war er erfolgreich gewesen. Den ganzen Abend lang hatte er kein einziges Mal an den Ranzen mit den Büchern und Papieren gedacht, den er unter seinem Bett versteckt hatte. Was wäre passiert, hätte sie auch nur die Andeutung von Angst oder eines Wunsches gespürt?
Hoffentlich geht sie bald, damit ich mich wieder meinen Texten widmen und eine Möglichkeit finden kann, sie zu kontrollieren!
Hätte sie ihn angegriffen, aus einem Selbsterhaltungstrieb heraus? Oder wäre sie bereitwillig einverstanden gewesen, hätte seine Nachforschungen sogar ermuntert? Er hatte sie nie gefragt, ob sie gern wieder einen Meister hätte, und jetzt schnürte ihm der Gedanke an so ein Gespräch die Kehle zu. Es wäre, als ob man jemanden fragen würde, ob er sich nicht umbringen wolle, um seinen momentanen Schwierigkeiten zu entkommen.
    Ständig musste er sich daran erinnern, dass sie kein Mensch war. Sie war ein Golem und hatte keinen Meister. Er zwang sich, an seinen kleinen Golem in der Jeschiwa zu denken, und wie er rasend und vollkommen gleichgültig auf die Spinne eingedroschen hatte. Sie waren zwei verschiedene Geschöpfe; aber ihr innerstes Wesen war gleich. Diese kalte Unbarmherzigkeit existierte irgendwo auch in ihr.
    Aber hatte sie auch eine
Seele?
    Oberflächlich betrachtet, lautete die Antwort schlichtweg nein. Nur der Allmächtige konnte eine Seele verleihen, so wie

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