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Golem und Dschinn: Roman (German Edition)

Golem und Dschinn: Roman (German Edition)

Titel: Golem und Dschinn: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helene Wecker
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sich eine Zigarette, rauchte und schaute hinunter auf die Straße. Es ärgerte ihn, dass er der Bowery so schnell überdrüssig geworden war. Bald würde die Sonne aufgehen; dann wollte er in die Washington Street zurückkehren.
    In seinem Rücken knirschten Schritte auf der Dachpappe, und einen unbedachten Augenblick lang freute er sich über die Gesellschaft.
    »Das ist ein schöner Schirm, Sir.«
    Eine junge Frau, fast noch ein Mädchen, stand vor ihm. Sie trug ein schäbiges Kleid voller Flecken, das einst von guter Qualität gewesen war. Sie hielt den Kopf seltsam schief, als wäre er zu schwer für ihren Hals. Ihr Haar war lang und dunkel und hing wie ein Vorhang vor ihrem Gesicht, doch dahinter ließ sie ihn nicht aus den Augen.
    Sie hob eine matte Hand und strich sich das Haar aus dem Gesicht; diese Geste erinnerte den Dschinn an irgendetwas. Einen langen Moment war er überzeugt, dass er sie kannte und sie wiedererkennen würde, sobald er ihr Gesicht sah.
    Aber sie war nur ein unauffälliges Mädchen, eine Fremde. Sie lächelte ihn verträumt an. »Suchen Sie Gesellschaft, Sir?«, fragte sie.
    »Eigentlich nicht«, antwortete er.
    »Ein so hübscher Mann wie Sie sollte nicht allein sein.« Sie sagte den Satz, als hätte sie ihn auswendig gelernt. Langsam schloss sie die Augen. Stimmte etwas nicht mit ihr? Und warum hatte er geglaubt, dass er sie kannte? Er sah ihr ins Gesicht. Sie deutete seine Aufmerksamkeit als Zustimmung und drückte sich an ihn. Sie schlang die Arme um seine Taille. Er spürte ihr Herz schlagen, ein unruhiges schnelles Flattern in ihrer Brust. Sie seufzte, als würde sie es sich für die Nacht bequem machen. Er blickte auf ihren Kopf hinunter und war seltsam verunsichert. Er hob eine Hand und sah zu, wie seine Finger durch ihr Haar glitten.
    Sie flüsterte: »Für zwanzig Cent bekommen Sie, was immer Sie wollen.«
    Nein.
Er stieß sie zurück, und sie schwankte. Eine kleine Flasche fiel vor ihr auf den Boden. Er neigte sich vor und hob sie auf. Sie war mit einem Korken verschlossen und halb gefüllt mit einer öligen Flüssigkeit.
Opiumtinktur
, stand auf dem Etikett.
    Das Mädchen kreischte auf, streckte die Hand aus und entriss ihm das Fläschchen. »Das gehört mir«, fuhr sie ihn an, drehte sich um und lief auf unsicheren Beinen davon.
    Er sah ihr nach, dann stieg er vom Dach und ging nach Hause. Er wusste nicht, warum ihn das Mädchen so durcheinandergebracht hatte. Allerdings war ihm die Bewegung ihrer Hand, als sie sich den dunklen Haarschleier aus dem Gesicht strich, so überaus vertraut vorgekommen.

    Im Ziegenpferch ihres Vaters richtete sich Fadwa al-Hadid auf dem Melkschemel auf und strich sich den Vorhang aus dunklem Haar aus dem Gesicht. Sie hatte es im Nacken zusammengefasst, aber es löste sich immer, wenn sie die Ziegen melkte. Wohl wegen der rhythmischen Bewegung.
    Die Ziege meckerte und schaute sich zu ihr um, verdrehte die Augen mit den senkrechten Pupillen. Fadwa streichelte über ihren Rücken und flüsterte ihr beruhigende Worte ins ledrigweiche Ohr. Die Ziegen waren ungebärdig, weigerten sich stillzustehen, wechselten von einem Bein aufs andere, sodass der Eimer umzufallen drohte. Vielleicht spürten sie den kommenden Sommer. Es war noch Vormittag, dennoch brannte die Sonne auf sie herunter, erhitzte die Luft und färbte den Himmel messingfarben. Sie trank aus dem Eimer und löste ihr Haar vollständig.
    Nicht weit entfernt von ihr sah der Dschinn zu, wie sie ihr Haar im Nacken neu zusammenfasste. Es war eine hübsche Geste, unbefangen und intim.
    Seit Tagen beobachtete er das Mädchen und ihre Familie und versuchte, ihre Lebensweise zu verstehen. Innerhalb der sorgfältig begrenzten Welt, deren Mittelpunkt das Lager bildete, herrschte ein ständiges Kommen und Gehen. Die Männer entfernten sich weiter als die Frauen, aber auch sie stießen an Grenzen. Sie waren nicht mehr in Sichtweite des Palastes gewesen, und er fragte sich, ob es damals einen besonderen Anlass dafür gegeben hatte.
    Er sah zu, wie Fadwa die Ziege losband und zur nächsten ging. Ihr Leben war wirklich so, wie sie es beschrieben hatte, eine endlose Wiederholung derselben Aufgaben. Die Männer in einer Karawane hatten zumindest ein Ziel vor Augen, ein Ziel jenseits des Horizonts. Fadwas Leben bestand, soweit er es überblicken konnte, aus Melken, Putzen, Kochen und Weben. Er fragte sich, wie sie es aushielt.
    Nachdem sie die letzte Ziege gemolken hatte, band Fadwa sie los und überprüfte das

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