Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Golem und Dschinn: Roman (German Edition)

Golem und Dschinn: Roman (German Edition)

Titel: Golem und Dschinn: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helene Wecker
Vom Netzwerk:
Schleuse geöffnet. Ihm war nicht klar gewesen, wie sehr er sich danach gesehnt hatte, es jemandem, irgendjemandem zu erzählen.
    Ihr Gesicht spiegelte einen Kampf wider, eine innere Schlacht, die sie mit sich austrug. Schließlich sagte sie: »Ich heiße Chava.«
    »Chava«, wiederholte er. »Chava, was bist du?«
    »Ein Golem«, flüsterte sie. Dann riss sie die Augen auf und hielt sich die Hand vor den Mund, als hätte sie gerade das gefährlichste Geheimnis der Welt preisgegeben. Sie taumelte rückwärts, drehte sich um, um davonzulaufen; und in ihren Bewegungen erkannte er ihre ungeheure körperliche Kraft und wusste, dass sie mühelos Arbeelys beste Blechplatten auseinanderbrechen könnte.
    »Warte!« Aber sie rannte jetzt, ohne zurückzublicken. Sie flitzte um eine Ecke und war verschwunden.
    Er stand eine Weile allein auf dem Gras und wartete. Dann folgte er ihr.
    Es war nicht schwer, sie aufzuspüren. Wie er vemutet hatte, hatte sie sich verirrt. Sie blieb zögernd an Kreuzungen stehen, schaute die Gebäude und Straßenschilder an. Das Viertel war ein Gewirr von Elendsquartieren, und öfter als einmal wechselte sie die Straßenseite, um einem Mann auszuweichen, der ihr entgegenschwankte. Der Dschinn hielt sich in sicherer Entfernung, musste sich jedoch mehrmals hinter ein Gebäude ducken, wenn sie im Kreis gegangen war.
    Schließlich schien sie den Weg gefunden zu haben und schritt sicherer aus. Sie überquerte die Bowery, und er folgte ihr in ein etwas saubereres und ehrbareres Viertel. Hinter einer Ecke sah er zu, wie sie in einem schmalen Haus verschwand, das zwischen zwei riesigen Gebäuden eingequetscht war. In einem Fenster ging das Licht an.
    Bevor sie hinausblicken und ihn entdecken konnte, entfernte er sich Richtung Westen, prägte sich dabei die Straßen, die Abzweigungen und Wahrzeichen ein. Er fühlte sich merkwürdig beschwingt und frohgemuter als seit Wochen. Diese Frau, dieser –
Golem?
 – war ein Rätsel, das darauf wartete, gelöst zu werden, ein Geheimnis, das besser war als jede bloße Zerstreuung. Er würde ihre nächste Begegnung nicht dem Zufall überlassen.

    In seiner feuchten Kellerwohnung wälzte sich Mahmoud Saleh in seinem Bett hin und her. Diese Schlaflosigkeit war neu. Im Sommer war Saleh am Ende jeden Tages so erschöpft gewesen, dass er kaum mehr die Kraft gehabt hatte, sich nach Hause zu schleppen. Aber jetzt ging der Herbst zu Ende, und die Kinder kauften schon lange kein Eis mehr. Nachdem es kühl geworden war, hatte er weiter jeden Morgen seine Eismaschine in Betrieb genommen und war durch die verregneten Straßen gezogen, obwohl die Kundschaft ausblieb. Er hatte keine Überlebensstrategie, denn er wollte den Winter gar nicht überleben.
    Aber dann mischte sich die Welt in Gestalt von Maryam Faddoul wieder ein. Sie hielt ihn eines Morgens vor ihrem Kaffeehaus an und erklärte ihm, dass alle syrischen Café- und Restaurantbesitzer, Maroniten wie Orthodoxe, beschlossen hätten, während der Wintermonate Eis von Saleh zu kaufen und es ihren Gästen anzubieten.
    »Das ist etwas Neues«, sagte sie. »Ein sommerlicher Geschmack, der uns daran erinnert, dass es wieder Sommer werden wird.«
    Bestimmt würden sie bei der Kälte lieber etwas Warmes essen, dachte er. Aber er wusste auch, dass er mit Logik nicht weiterkam, wenn Maryam sich dieses Vorhaben in den Kopf gesetzt hatte. Die meisten Idealisten leben in ihrer eigenen Welt, hermetisch abgeschlossen von der Wirklichkeit; doch Maryam schien mühelos andere in ihre Welt hineinziehen zu können. Ihre aufrichtige Güte beeinträchtigte das Urteilsvermögen anderer so sehr, dass sie mitten im Winter große Mengen Eiscreme kauften.
    Lass mich in Ruhe
, hätte er am liebsten gesagt.
Lass mich in Frieden sterben.
Aber da war nichts zu machen. Sie hatte einfach beschlossen, dass ein notleidender, halb verrückter Eisverkäufer den mörderischen Winter überleben würde, weil sie es so wollte. Er hätte sie gern gehasst, aber er empfand nur gereizte Verwirrung.
    Deswegen war Saleh nun nicht mehr so viel unterwegs. Er ging von Restaurant zu Restaurant, machte Eis im Tausch gegen eine Handvoll Münzen. Und ihm wurde noch mehr Wohltätigkeit zuteil. Die Nachbarn hinterließen ihm ihre alten Kleider, zu ordentlichen, anonymen Stapeln gefaltet, auf der Kellertreppe. Er nahm sie ebenso mürrisch an wie Maryams Großzügigkeit. Manche davon zog er an, eine Schicht über der anderen; andere nähte er mit einer großen Nadel und dickem

Weitere Kostenlose Bücher