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Golem und Dschinn: Roman (German Edition)

Golem und Dschinn: Roman (German Edition)

Titel: Golem und Dschinn: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helene Wecker
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Sie musste wissen, wer er war.
Was
er war.
    Und deshalb rührte sich der Golem nicht von der Stelle und wartete, als der Mann sich ihr langsam und vorsichtig näherte.

    Bis jetzt war der Abend für den Dschinn ziemlich enttäuschend verlaufen. Er hatte das trockene Wetter genutzt und war ausgegangen, aber ohne große Begeisterung. Da ihm nichts Besseres eingefallen war, hatte er sich auf den Weg zum Aquarium gemacht, doch stattdessen fand er sich im City Hall Park wieder, einer unauffälligen Rasenfläche, die von breiten, sich kreuzenden asphaltierten Wegen in Stücke geschnitten wurde. Von dort marschierte er zum Wagendepot in der Park Row, ein langes niedriges Gebäude, das auf massiven Eisenträgern stand. Er ging darunter hindurch und blickte hinauf zu den Zügen, die auf den Gleisen schliefen und darauf warteten, am Morgen neue Fahrgäste über die Brooklyn Bridge zu bringen.
    Er war noch nicht in Brooklyn gewesen und wollte auch nicht dorthin, noch nicht. Er musste sich die neuen Erfahrungen sorgfältig einteilen, damit sie ihm nicht ausgingen. Er sah flüchtig vor sich, wie er in zehn, zwanzig, dreißig Jahren immer weitere Kreise zog, um jede nur mögliche Quelle der Zerstreuung zu nutzen. Er rieb an dem Eisen um sein Handgelenk, merkte, was er tat, und hörte auf damit. Er würde sich nicht, auf gar keinen Fall, von Selbstmitleid überwältigen lassen.
    Er schlenderte die Park Row in nordöstlicher Richtung entlang, bis ihm klar wurde, dass er sich der Bowery näherte. Da er sie meiden wollte, bog er in die nächste Straße ein, die von schmutzigen Wohnblocks gesäumt war. Auch nicht besser, dachte er.
    Die Gebäude verjüngten sich zu Keilen vor einer großen Kreuzung, einer Ödnis aus Pflastersteinen. Jenseits davon befand sich ein schmaler kleiner Park. In der Mitte stand eine einzelne Frau.
    Zuerst sah er nur, dass sie eine ehrbar wirkende Frau war, die mitten in der Nacht allein unterwegs war. Das war zwar merkwürdig, ließ sich aber vermutlich erklären. Doch sie trug weder Hut noch Umhang, sondern nur Rock und Bluse. Und warum starrte sie ihn an und verfolgte jede seiner Bewegungen? War sie verrückt, oder hatte sie sich nur verlaufen?
    Er hatte die Mitte der Kreuzung erreicht und blickte erneut beunruhigt zu ihr; da sah er, dass sie kein Mensch war, sondern ein lebendes Stück Erde.
    Er blieb wie angewurzelt stehen. Was war sie?
    Jetzt starrte er sie an. Zögernd ging er bis zur Grasfläche. Als er nur noch wenige Meter von ihr entfernt war, schien sie zurückweichen zu wollen. Er blieb sofort stehen. Ein feiner Dunst umgab sie, und sie roch nach etwas Dunklem, Reichhaltigem.
    »Was bist du?«, fragte er.
    Sie schwieg, ließ nicht erkennen, ob sie ihn verstanden hatte. Er versuchte es noch einmal. »Du bist kein Mensch. Du bist aus Erde.«
    Endlich sprach sie. »Und du bist aus Feuer.«
    Der Schock traf ihn wie ein Schlag vor die Brust, und dann verspürte er große Angst. Er wich einen Schritt zurück. »Woher weißt du das?«, fragte er.
    »Dein Gesicht glüht. Als ob es von innen beleuchtet wäre. Kann es sonst niemand sehen?«
    »Nein«, sagte er. »Niemand.«
    »Aber du kannst mich sehen«, sagte sie.
    »Ja.« Er legte den Kopf schief und versuchte zu verstehen. Wenn er sie auf eine Weise betrachtete, war sie nur eine große, dunkelhaarige Frau. Und dann veränderte sich seine Sichtweise irgendwie, und er sah ihre Züge in Lehm gemeißelt. Er sagte: »Meine Art kann die wahre Natur aller Wesen sehen, so erkennen wir uns, wenn wir uns begegnen, in was für einer Gestalt auch immer. Aber ich habe noch nie …«
    Er streckte gedankenlos die Hand aus, um ihr Gesicht zu berühren. Sie machte einen Satz nach hinten.
    »Ich sollte nicht hier sein«, keuchte sie. Sie schaute sich hektisch um, als sähe sie zum ersten Mal, wo sie sich befand.
    »Warte! Wie heißt du?«, fragte er. Sie schüttelte den Kopf und wich zurück wie ein verängstigtes Tier.
    »Wenn du mir deinen Namen nicht sagst, sage ich dir meinen!« Gut. Sie war stehengeblieben, zumindest für den Augenblick. »Ich heiße Ahmad, aber das ist nicht mein wahrer Name. Ich bin ein Dschinn. Ich wurde vor tausend Jahren in einer Wüste auf der anderen Seite der Welt geboren. Ich bin durch Zufall hierhergekommen, gefangen in einer Ölflasche. Ich wohne in der Washington Street, westlich von hier, bei einer Kupferschmiede. Bis zu diesem Augenblick kannte nur eine einzige andere Person in New York meine wahre Natur.«
    Es war, als hätte er eine

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