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Golem und Dschinn: Roman (German Edition)

Golem und Dschinn: Roman (German Edition)

Titel: Golem und Dschinn: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helene Wecker
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einmal und wartete. Wahrscheinlich war er eingeschlafen. Sie stellte sich vor, wie er im Wohnzimmer in einem Sessel schlief, und musste lächeln. Er würde sich ärgern, dass er eingeschlafen war und sie warten ließ.
    Sie klopfte ein drittes Mal, lauter. Immer noch nichts. Sie stand eine Weile da und wusste nicht so recht, was sie tun sollte. Sie fragte sich, was der Rabbi ihr raten würde, und die Antwort war so klar, als hätte er sie ihr ins Ohr geflüstert:
Du weißt, dass ich die Tür tagsüber nicht abschließe. Die Wohnung ist genauso dein wie mein Zuhause. Komm rein!
    Sie öffnete die Tür.
    In der Wohnung war es dunkel, keine Lampe brannte. Sie schaute ins Schlafzimmer. Das Dämmerlicht warf Schatten auf das ordentlich gemachte Bett. Sie ging in die Küche, stellte den Strudel ab und entzündete eine Lampe. Jetzt hatte sie Angst. Das Feuer im Herd war erloschen. Es war kalt, und die Luft roch muffig wie schmutzige Wäsche.
    Sie ging ins Wohnzimmer, und dort fand sie ihn. Seine Beine waren verdreht. Seine Augen starrten blind auf das Fenster hinter ihm.
    Zuerst empfand sie keinen Schrecken, keinen Schock, sondern einfach nur Ungläubigkeit. Das war nicht real. Es war ein gemaltes Bild, eine Sinnestäuschung. Wenn sie die Hand ausstreckte, könnte sie es mit den Fingern wegwischen.
    Zitternd ging sie neben ihm in die Hocke und berührte sein Gesicht. Es fühlte sich kalt und hart an.
    Entfernt – nahezu desinteressiert – spürte sie, wie sich etwas in ihr aufbaute, und sie wusste, dass es stark genug wäre, um Gebäude einzureißen, wenn es durch die Oberfläche brach.
    Sein Haar war zerzaust, und die Kippa war verrutscht. Das würde ihm nicht gefallen. Sie strich sein Haar glatt und rückte die Kippa zurecht, bemühte sich, ihn nur ganz leicht zu berühren. Ein Arm stand in einem merkwürdigen Winkel von seinem Körper ab. Ein Umschlag war ihm aus der Hand gerutscht, eine Ecke berührte noch seine Fingerspitzen. Sie sah, dass etwas darauf stand. Sie neigte sich vor und las:
    Befehle für den Golem.
    Sie hob den Umschlag auf. Das glatte Papier knisterte in ihrer Hand; in der Stille des Zimmers klang es so laut wie ein Feuerwerk. Sie steckte ihn in die Tasche ihres Umhangs.
    Noch immer rührte er sich nicht. Doch jetzt hörte sie etwas, einen abgehackten, hohen wehklagenden Laut. Zuerst leise, dann immer lauter. Und lauter. Jemand klopfte an die Tür, und sie merkte, dass sie selbst den Laut von sich gab, vor- und zurückschaukelte, die Hände vor dem Mund, laut aufschrie, und dann hörte sie Worte.
Rabbi, Rabbi!
    Jemand fasste sie an der Schulter, jemand sagte etwas zu ihr. Weitere Schreie, jetzt nicht mehr ihre eigenen.
    Schritte im Flur und im Treppenhaus. Sie ließ sich von ihm wegziehen und zu einem Stuhl führen. Jemand reichte ihr ein Glas Wasser. Und jetzt gingen Nachbarinnen ein und aus, kümmerten sich still, wischten sich die Tränen ab und sprachen leise miteinander, nickten und gingen auseinander. Ein Mann mit einer ledernen Arzttasche stürzte herein; in seinem Gürtel steckte noch die Serviette vom Abendessen. Er neigte sich über den Rabbi, zog ein Lid zurück, legte das Ohr auf seine Brust. Dann schüttelte er den Kopf. Er richtete sich auf, nichts war jetzt mehr dringlich.
    Eine Frau legte ein Laken über den Rabbi. Es bauschte sich im Luftzug, bevor es auf seiner Leiche zu liegen kam. Ein zweites hängte sie über den Spiegel im Wohnzimmer.
    Gemurmel. Und jetzt blickten die Frauen verstohlen zum Golem. Wer war sie? Was tat sie in der Wohnung eines verwitweten alten Rabbis? Der Golem wusste, dass sie Mut sammeln würden, sie zu fragen, wer sie war. Und sie könnte sie nicht anlügen. Nicht, solange der Rabbi unter dem Laken auf dem Boden lag. Sie musste gehen. Sie spürte ihre neugierigen Blicke, als sie an ihnen vorbeiging, hörte das Geflüster, das ihr folgte. Aber es war ihr gleichgültig. Sie fühlte noch immer diese Dunkelheit in sich aufsteigen; sie musste nach Hause.
    Draußen war es stockfinster, und der Wind hatte aufgefrischt. Er zerrte an ihrer Kleidung und wehte ihr beinahe den Hut vom Kopf. Sie nahm ihn ab und trug ihn in der Hand. Passanten blieben stehen, um ihr nachzusehen, einer großen blassen Frau in dunklem Kleid und Umhang, die ausschritt, als würde sie von einer schrecklichen Kraft getrieben. Ein betrunkener Mann beschloss, die einsame Frau auf ihrem nächtlichen Spaziergang anzusprechen und sie um ihre Gesellschaft zu bitten. Als er sich ihr näherte, erkannte

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