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Golem und Dschinn: Roman (German Edition)

Golem und Dschinn: Roman (German Edition)

Titel: Golem und Dschinn: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helene Wecker
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Sie legte ihn in die Schublade des kleinen Tisches, ging ein paar Minuten auf und ab, holte ihn wieder heraus, steckte ihn zwischen Matratze und Bett und setzte sich darauf.
    Warum hatte der Rabbi ihr den Umschlag gegeben? Und was sollte sie damit
tun
?

    Im Hafen von Danzig drängten sich die Reisenden und ihre Angehörigen. Die
Baltika
war am Ende des Docks vertäut, ein riesiges Schiff, bereit, im morgendlichen Dunst zu verschwinden.
    Yehudah Schaalman, der so lange allein in seiner Hütte gelebt hatte, empfand den Lärm des Hafens als unerträglich. Er packte den Griff seines abgenutzten kleinen Koffers und versuchte, sich durch die Menschenmenge zu drängen. Als das Schiff warnend tutete, erstarrte er vor Schreck. Das Schiff war das größte Ding, das er jemals gesehen hatte; er merkte, dass er es angaffte wie ein Schwachsinniger.
    Die Menge lichtete sich, und er ging mit den Verbliebenen den Landungssteg hinauf. Vom Deck sah er zu, wie sie sich vom Land entfernten. Die zum Abschied winkenden Verwandten im Hafen schrumpften und verschwanden. Der Nebel wurde dichter, und die polnische Küste war bald nur noch ein schmaler brauner Strich. Dann war auch der Strich nicht mehr zu sehen, verschluckt von Nebel und Wasser. Und Schaalman verstand die Tränen nicht, die ihm übers Gesicht strömten.

Kapitel  12
    A m Morgen, nachdem Rabbi Meyer gestorben war, wurde Michael Levy früh von einem Mitbewohner geweckt, der ihn sachte an der Schulter schüttelte. An der Tür sei ein Mann, der aussehe wie ein Rabbiner und ihn sprechen wolle. Michael ging zur Tür und erkannte einen alten Freund seines Onkels. Er sah den Kummer im Gesicht des Mannes und wie schwer ihm seine Aufgabe fiel, und Michael begann zu weinen, ohne dass ein Wort gesagt werden musste.
    Wir wissen nicht genau, wann es passiert ist
, sagte der Rabbi.
Eine Frau hat ihn gefunden. Niemand weiß, wer sie ist. Die Nachbarn kennen sie nicht.
Daraufhin schwieg der Mann, und sein Schweigen enthielt eine Botschaft: Sein Onkel hätte nicht allein mit einer fremden Frau sein dürfen, aber das würden sie für sich behalten. Michael dachte an Chava, die Freundin seines Onkels, sagte jedoch nichts.
    Den ganzen Morgen lang weinte Michael und versank in Schuldgefühlen. Er hätte ihn besuchen sollen, wie er es vorgehabt hatte. Er hätte sich Mühe geben, sich entschuldigen, ihre Meinungsverschiedenheiten aus der Welt schaffen sollen. Er hätte ihm
helfen
sollen. Hatte er nicht geahnt, dass etwas nicht stimmte?
    Am Nachmittag ging er in die Wohnung seines Onkels. Jemand hatte bereits schwarzen Krepp am Rahmen der Tür angebracht. Im Schlafzimmer saß ein junger Mann mit schwarzem Hut und Schläfenlocken auf einem Stuhl neben dem Bett, auf dem sein Onkel Avram lag. Michael blickte zu der reglosen Gestalt und sofort wieder weg. Sein Onkel sah steif aus, geschrumpft. Nicht so, wie Michael ihn in Erinnerung behalten wollte.
    Der junge Mann nickte Michael kurz zu, dann wandte er sich wieder dem Toten zu: Er saß Schiwe, hielt die Totenwache. An jedem anderen Wochentag wäre die Wohnung von großer Aktivität erfüllt gewesen, von Männern, die gemeinsam beteten, die Leiche seines Onkels wuschen, sie in das Leichentuch nähten. Aber es war Sabbat, der Tag der Ruhe. Ein Begräbnis vorzubereiten war verboten.
    Er wollte seine Hilfe anbieten, aber das kam nicht infrage. Er war vom Glauben abgefallen. Er durfte nicht helfen. Wäre er der Sohn gewesen, nicht nur der Neffe, hätten die Kollegen seines Onkels vielleicht Mitleid gehabt und ihm erlaubt, eine kleine Aufgabe zu übernehmen. So wie die Dinge standen, war er überrascht, dass er die Wohnung überhaupt hatte betreten dürfen.
    Jemand klopfte leise an die Tür. Der junge Mann ging, um zu öffnen. Aus dem Hausflur drang die Stimme einer Frau. Der junge Mann kehrte zurück und schüttelte den Kopf. Hier war endlich etwas, was Michael tun konnte. »Lassen Sie mich das machen«, sagte er und eilte in den Flur. Dort stand, wie ein Häufchen Elend, die Freundin seines Onkels.
    »Michael«, sagte sie. »Ich bin so froh, dass Sie da sind. Ich hätte mir denken können, dass ich nicht hinein darf, ich hätte wissen müssen …«
    »Ist schon in Ordnung«, beschwichtigte er sie.
    Aber sie schüttelte den Kopf, schlang die Arme um sich. »Ich würde ihn so gern sehen«, sagte sie.
    »Ich weiß«, Michael spürte, wie sich hinter dem Schmerz der vertraute Zorn auf die religiösen Beschränkungen aufbaute. Wie gut hatte der Mann in der

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