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Golem und Dschinn: Roman (German Edition)

Golem und Dschinn: Roman (German Edition)

Titel: Golem und Dschinn: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helene Wecker
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Zwirn zu einer unregelmäßigen Decke zusammen.
    Doch sein Körper, der an harte Arbeit gewöhnt war, rebellierte gegen diese neue Wärme und Bequemlichkeit. Er schlief zur gewohnten Zeit ein und erwachte mitten in der Nacht und sah in den Ecken ekelhafte Schatten herumkriechen. Um sie von sich fernzuhalten, hatte er seine Pritsche mit konzentrischen Kreisen aus Mausefallen und Karbolpulver umgeben. Der winzige Raum sah aus wie der Altar von Ungläubigen mit ihm selbst als Opfer in der Mitte.
    Er drehte sich unter der Decke um und versuchte eine bequemere Lage zu finden. Diese Nacht war besonders schlimm. Er lag seit Stunden wach und zählte jeden Schlag seines eigensinnigen Herzens. Schließlich hielt er es nicht länger aus. Er stand auf, zog einen zerrissenen Mantel an, wickelte sich einen Schal um den Kopf und ging hinaus auf die Straße.
    Der Abend war kalt und klar, auf den Fenstern lag eine Spur Reif. Selbst in seinen defekten Augen hatte er auf unheimliche Weise etwas Schönes. Er atmete die frische Luft ein und große Wolken aus Dampf aus. Vielleicht sollte er eine Weile herumlaufen, bis er müde würde.
    Aus dem Augenwinkel bemerkte Saleh ein Glühen. Er blinzelte, um besser sehen zu können. Auf der Straße kam ein Mann auf ihn zu. Sein Gesicht war aus Feuer.
    Saleh blieb der Mund offen stehen. Das war unmöglich! Warum verbrannte der Mann nicht? Hatte er keine Schmerzen? Er wirkte jedenfalls nicht so: Seine glühenden Augen blickten nonchalant, und er lächelte leise vor sich hin.
    Seine
Augen.
Sein
Mund.
    Mahmoud Salehs Knie gaben beinahe nach, als ihm klar wurde, dass er dem Mann ins Gesicht starrte.
    Der Mann ging in ein paar Metern Entfernung an ihm vorbei und bedachte ihn kurz mit einem angewiderten Blick. Einen halben Block weiter lief der Mann die Stufen zu einem unauffälligen Gebäude hinauf – ein Gebäude, an dem Saleh jeden Tag vorbeikam! – und war verschwunden.
    Zitternd kroch Saleh in sein Kellerzimmer zurück. Er würde diese Nacht nicht mehr schlafen können. Er hatte dem Mann ins Gesicht gesehen und nicht dafür büßen müssen. Einem großen Mann mit arabischen Gesichtszügen, die glühten, als wären sie von innen beleuchtet. Er war das einzig Reale in einer Straße voller Schatten gewesen, und jetzt, da er nicht mehr da war, wirkte die Welt noch geisterhafter.

    Der Morgen dämmerte schon fast, als der Golem in die Pension zurückkehrte. Ihr Kleid lag noch auf dem Boden, der Riss im Stoff klaffte auf wie ein zeternder Mund.
    Wie hatte sie bloß so unvorsichtig sein können? Sie hätte nicht allein auf die Straße gehen dürfen! Sie hätte sich nie so weit von der Pension entfernen dürfen! Und als sie den glühenden Mann gesehen hatte, hätte sie davonlaufen müssen! Auf keinen Fall hätte sie mit ihm sprechen und ihm schon gar nicht ihre wahre Natur enthüllen dürfen!
    Das alles war nur passiert, weil der Rabbi gestorben war. Seitdem war sie schwach. Sie war dem glühenden Mann im allerschlechtesten Augenblick begegnet. Und seine drängende Neugier, sein Wunsch, mehr über sie zu wissen, hatten ihr letztes bisschen Selbstbeherrschung überwältigt.
    Sie musste von jetzt an stärker sein. Sie konnte sich nur wenige Fehler erlauben. Der Rabbi war nicht mehr. Niemand passte mehr auf sie auf.
    Der Verlust traf sie erneut wie ein Schlag. Was sollte sie tun? Es gab niemanden, mit dem sie reden, an den sie sich wenden konnte. Was taten die Menschen, wenn diejenigen starben, die sie brauchten? Sie lag zusammengerollt auf dem Bett und fühlte sich, als wäre ihre Brust eine offene Wunde, weil sie jemand brutal ausgehöhlt hatte.
    Schließlich riss sie sich zusammen und stand auf. Es war Zeit, in die Bäckerei zu gehen. Die Welt hatte nicht aufgehört zu existieren, so sehr sie es sich auch wünschte, und sie konnte sich nicht in ihrem Zimmer verstecken. Als sie mit bleiernen Armen ihren Umhang anzog, hörte sie etwas in der Tasche knistern.
    Es war der Umschlag.
Befehle für den Golem.
Sie hatte ihn vergessen.
    Sie öffnete ihn und nahm ein dickes, zweimal gefaltetes Blatt Papier heraus. Sie glättete die erste Falte. Eine zitternde Hand hatte dort geschrieben:
Der erste Befehl bringt Leben. Der zweite zerstört.
    Die zweite Falte stand ein wenig offen, als wollte sie ihre Geheimnisse unbedingt preisgeben. Sie sah die Schatten hebräischer Buchstaben.
    Die Versuchung waberte in ihr wie Nebelschwaden.
    Rasch faltete sie das Papier wieder zusammen und steckte es zurück in den Umschlag.

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