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Golem und Dschinn: Roman (German Edition)

Golem und Dschinn: Roman (German Edition)

Titel: Golem und Dschinn: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helene Wecker
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der Golem die Absicht in seinen Augen und Gedanken und dachte, wie einfach es wäre, ihn zu Boden zu schlagen. Sie würde nicht einmal stehenbleiben müssen. Doch als sie näher kam, schaute der Mann ihr ins Gesicht, trat zur Seite und bekreuzigte sich. Später erzählte er seinen Freunden, dass er auf der Orchard Street den Todesengel gesehen hatte, wie er die Seelen einsammelte.
    Ihr Zimmer in der Pension erschien ihr noch kleiner als sonst. Sie setzte sich auf die Bettkante. Sie blickte auf ihre Hände hinunter und sah, dass sie dunkle Filz- und Bandfetzen festhielten. Was war das? Dann verstand sie, dass das ihr Hut war, den sie zerrissen hatte, ohne es zu merken.
    Sie warf die Fetzen auf den Boden und legte den Umhang ab. Wenn sie die Nacht wie gewohnt verbrachte, würde sie sich vielleicht beruhigen.
    Sie nahm das Kleid aus dem Schrank, zog den Stuhl ans Fenster und begann, die Stiche aufzutrennen. Aber die Passanten auf der Straße lenkten sie ab. Es war die übliche bunte Mischung von Betrunkenen, kichernden Mädchen, Arbeitern und jungen Paaren, die heimlich einen Spaziergang machten, die gleichen Ängste und Hoffnungen wie immer; aber jetzt erschienen sie ihr obszön. Sie spazierten herum, als wäre nichts geschehen! Wussten sie denn nicht, dass der Rabbi tot war? Hatte es ihnen niemand gesagt?
    Ihre Hände bewegten sich zu schnell, die Schere rutschte ihr aus der Hand und machte einen Riss in den Stoff, so lang wie ihr Finger.
    Der Golem schrie auf und warf das Kleid auf den Boden. Sie schlug die Hände vors Gesicht und begann stöhnend vor- und zurückzuschaukeln. Die Wände schienen sie zu bedrängen. Sie konnte nicht länger hierbleiben. Sie musste raus. Sie musste sich bewegen. Oder sie würde die Kontrolle über sich verlieren.
    Ohne Hut, Umhang oder Plan lief der Golem aus der Pension. Sie ging ziellos herum, ohne auf ihre Umgebung zu achten. Der Abend war jetzt richtig kalt, Frost lag in der Luft. Ein fast voller Mond hing über den Gaslampen und ließ ihr gelbes Licht fahl und kränklich aussehen.
    Sie lief von einer Straße zur nächsten. Die Viertel gingen ineinander über, die Sprachen auf den Ladenschildern änderten sich. Sie lief durch Chinatown und bemerkte kaum die roten Wimpel, die über ihr im Wind flatterten. Wieder änderte sich die Sprache auf den Schildern, und noch immer blieb sie nicht stehen. Sie marschierte ihren Schmerz in Grund und Boden.
    Es dauerte lange, bis sie sich beruhigte, bis ihre Gedanken flüssiger, zusammenhängender wurden. Sie verlangsamte den Schritt, blieb schließlich stehen und schaute sich um. Eine Straße mit Wohnblocks zu beiden Seiten erstreckte sich vor ihr. Die Ziegelfassaden waren baufällig und schmutzig, und die Luft stank. Sie drehte sich um: Sie sah nichts, was ihr vertraut gewesen wäre, keine Brücke, keinen Fluss, nichts, woran sie sich hätte orientieren können. Sie hatte sich verlaufen.
    Zögernd ging sie weiter. Die nächste Straße wirkte noch trostloser und endete in einem kleinen Park, kaum größer als ein Flecken totes Gras. Sie stellte sich in die Mitte und drehte sich um die eigene Achse, versuchte, sich zu orientieren. Nicht weniger als sechs Straßen führten auf den Park zu. Sollte sie den Weg zurückgehen, den sie gekommen war? Wie sollte sie jemals wieder nach Hause finden?
    Und dann tauchte in einer Straße ein merkwürdiges Licht auf, das auf Kopfhöhe zu schweben schien. Sie blieb beunruhigt stehen. Das Licht kam auf sie zu. Als es nicht mehr weit entfernt war, sah sie, dass es kein Licht war, sondern ein Gesicht; und das Gesicht gehörte zu einem Mann. Er war groß, größer als sie, und trug keine Kopfbedeckung. Sein dunkles Haar war kurz geschnitten. In seinem Gesicht – und auch seinen Händen, wie sie jetzt bemerkte – glühte ein warmes Licht, wie eine mit dünnem Stoff umwickelte Lampe.
    Sie sah zu, wie er näher kam und konnte den Blick nicht von ihm abwenden. Sie sah, wie er sie einmal anblickte und dann noch einmal. Dann blieb er stehen. Auch aus dieser Entfernung spürte sie seine Neugier und die Angst dahinter, ein Spiegel ihrer eigenen Gefühle. Was, fragte er sich, ist
sie
?
    Der Schock lähmte sie. Nur der Rabbi war bislang in der Lage gewesen, sie als das zu erkennen, was sie war.
    Sie wusste, dass sie kehrtmachen und davonlaufen sollte. Davonlaufen vor diesem Mann, der bereits zu viel wusste, weil er sie gesehen hatte, sie wirklich gesehen hatte. Aber sie konnte es nicht. Sie vergaß die Welt um sich herum.

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