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Golem und Dschinn: Roman (German Edition)

Golem und Dschinn: Roman (German Edition)

Titel: Golem und Dschinn: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helene Wecker
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nicht? Dann würde er wohl hier sterben.

    Der Golem saß am Fenster und sah zu, wie der Schnee fiel. Kalte Luft drang durch das undichte Fenster, und sie zog den Umhang fester um sich. Obwohl ihr die Kälte als solche nichts ausmachte, ließ sie den Lehm ihres Körpers härter werden, und davon wurde sie ruhelos und gereizt. Sie trug den Umhang jetzt auch in ihrem Zimmer, aber er nützte nicht viel. Obwohl es erst zwei Uhr morgens war, taten ihr bereits die Beine weh.
    Der Schnee war allerdings wunderschön. Sie wünschte, sie könnte hinausgehen und ausprobieren, wie er sich anfühlte, solange er noch unberührt und frisch war. Sie dachte an das Grab des Rabbis jenseits des Flusses in Brooklyn, das jetzt unter einer weißen Decke verborgen war. Sie wollte ihn bald besuchen, aber erst musste sie herausfinden, wie das zu bewerkstelligen war. Sie war noch nie in Brooklyn gewesen, hatte die Lower East Side kaum verlassen. Und durften Frauen überhaupt auf einen Friedhof? Wie sollte sie jemanden fragen, ohne ihre Unwissenheit preiszugeben?
    Der Tod des Rabbis hatte ihr gezeigt, wie wenig sie von der Kultur wusste, in der sie lebte. Nach ihrer schrecklichen Entdeckung hatten die Nachbarinnen sofort ihre Rollen übernommen und die Vorschriften befolgt, die sie alle auswendig kannten: Sie hatten den Arzt geholt und den Spiegel bedeckt. Als ihr am nächsten Tag der Mann öffnete, der die Totenwache hielt, war sie über seinen heftigen Widerwillen und ihren eigenen Fehler erschrocken. Michaels Zorn über die Vorschriften hatte ihr gut getan; aber er wusste wenigstens, wogegen er sich auflehnte, während sie im Dunkeln tappte.
    Michael. Sie nahm an, dass sie auch ohne ihre Fähigkeit, Gedanken zu erspüren, gewusst hätte, was er sie im Flur hatte fragen wollen. Sie war dankbar, dass er es nicht getan hatte.
Sie müssen lernen, die Menschen nach ihren Taten zu beurteilen, nicht nach ihren Gedanken.
Der Rabbi hatte recht: Michael war ein guter Mensch, und sie war froh, dass sie ihm noch einmal begegnet war. Vielleicht würden sie sich gelegentlich auf der Straße oder in der Bäckerei wiedersehen. Sie könnten Bekannte, Freunde sein. Sie hoffte, dass er das akzeptieren würde.
    Unterdessen ging das Leben weiter. Mrs. Radzin hatte ihr in der Bäckerei ihr Beileid ausgesprochen und erwähnt, dass Mr. Radzin seinen Respekt bei der Schiwe in der Wohnung des Rabbis bezeugen würde. (Der Golem fragte sich, ob Mrs. Radzin zu Hause blieb, weil Frauen nicht mitkommen durften, oder weil sie auf die Kinder aufpassen musste. Woher sollte sie diese Dinge
wissen
?) Anna und Mrs. Radzin boten an, ihre Schichten an der Verkaufstheke zu übernehmen, sodass sie ungestört hinten arbeiten konnte. Das war sehr freundlich von ihnen, und sie nahm dankbar an.
    Die Einsamkeit erlaubte ihr, gründlich über die Ereignisse der vergangenen Tage nachzudenken und zu begreifen, dass das alles wirklich passiert war. Vor allem die Begegnung mit dem glühenden Mann schien wie etwas, was sie sich eingebildet haben könnte. Außer in ihrem Gedächtnis hatte er kein Zeichen, keine Spur seiner Existenz hinterlassen.
    Sie zuckte zusammen, wenn sie daran dachte, dass sie ihm ihr Geheimnis enthüllt hatte. Aber sie hatte nicht anders gekonnt. Er hatte ihr seine Geschichte so vorbehaltlos erzählt, dass ihr ihre eigene Vorsicht einen Moment lang übertrieben, sogar albern erschienen war. Und dann hatte er gefragt,
Was bist du?
, und die aufrichtige, unverhohlene Neugier seiner Frage hatte ihr den Rest gegeben.
    Zumindest war sie vor ihm davongelaufen, bevor sie noch mehr Schaden anrichten konnte. Es war eine zufällige Begegnung gewesen, die sich nicht wiederholen würde.
    Doch in unbedachten Momenten, wenn sie Teig anrührte oder Stiche zählte, schweiften ihre Gedanken zu ihm zurück und zu dem, was er gesagt hatte. Er war ein Dschinn – aber was war das? Warum glühte sein Gesicht? Wie war er
durch Zufall
hierhergekommen?
    Manchmal dachte sie sogar daran, ihn zu suchen, in die Washington Street zu gehen und ihm diese Fragen zu stellen. Aber dann zügelte sie ihre Gedanken und widmete sich anderen Dingen. Diese Phantasie war zu gefährlich, um sich lange damit zu beschäftigen.
    Und über noch etwas aus jener Nacht musste sie sich den Kopf zerbrechen. Sie hatte lange über den Umschlag mit dem kleinen gefalteten Stück Papier darin nachgedacht, den sie dem Rabbi aus der Hand genommen hatte. Sie hatte ihn nicht wieder geöffnet, weil sie Angst davor hatte, das

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