Golem XIV
ist die Ersteigung des »Gipfels der Erkenntnis«. Sogar wenn ein solcher Gipfel irgendwann einmal ersteigbar ist, sind wir doch viel zu weit von ihm entfernt, um uns allen Ernstes darüber unterhalten zu können, was sich auf ihm befindet.
Die Schwierigkeit liegt nicht darin, daß man in Sachen des »Denaturierten Kosmos« keine Hypothese, sondern darin, daß man zu viele sehr verschiedene Hypothesen formulieren könnte. Wir verfügen nämlich in diesem Bereich nicht über starke Auswahl- oder Selektionskriterien, und dabei fordert doch jede konkrete Hypothese die Einführung klarer Begrenzungen. In der Literatur habe ich mir derartige Begrenzungen selbst ausgedacht, aber ich kann sie ja nicht der Luft jenseits der Literatur entnehmen. Also wird eine ebenso kühne wie zu frühe Hypothese ihr Heimatrecht besser in der Literatur als in der Wissenschaft erhalten. In diesem Sinne kann die Literatur zum Aufbewahrungsort »neuer Gedanken« werden.
Da ich ein »Doppelleben« als Schriftsteller und als dilettierender Philosoph führe, beachte ich streng die Ordnungskriterien derjenigen Gattung, der ich mich jeweils widme. Ich muß ja unterscheiden zwischen den Freiheiten, die dem Literaten zur Verfügung stehen, und den Regeln, die den Philosophen verpflichten. Der Literat in mir darf kühner sein als der Erkenntnistheoretiker. Im übrigen hatte das oft überraschende Konsequenzen. Hypothesen, die ich im Zuge der »erlaubten Lüge« artikuliert hatte, wurden von den realen Geschehnissen in der Welt häufiger bestätigt als mit vorsichtiger Überlegung formulierte diskursive Urteile. Es sieht so aus, als ob die »Ausschweifungen der unverantwortlichen Phantasie« den Lauf der Welt besser voraussähen als das untadelige logische Denken von den letzten Gründen her.
Jene Regel unserer Kultur, die die Literatur zu einer Sammlung nichtassertorischer Aussagen macht, bewirkt zudem paradoxe, ja sogar antinomische Situationen, sooft der Kritiker ein Werk besprechen soll, dessen Autor sich im Text mit dem Verbrechen verherrlichenden oder sich zu Verbrechen bekennenden Erzähler identifiziert. Der Kritiker darf im Prinzip kein Gleichheitszeichen setzen zwischen dem Autor und dem Helden, auch nicht, wenn der Text Beteuerungen enthält, die versichern, daß der Autor dies kategorisch wünscht. Es geht hier um eine Anatomie; sie erzeugt unüberwindliche Schwierigkeiten für Theoretiker, die den logischen Wert literarischer, die wörtliche Wahrheit auf jedem gewöhnlichen Leser einsichtige Weise verkündender Texte festzustellen wünschen. Diese den Literaturkennern wohlbekannte Schwierigkeit könnte vortreffliche kulturelle Konsequenzen haben, wenn die Science-fiction – der Wissenschaft verwandt, aber ihren Regeln nicht voll untergeordnet – als Inkubator für erkenntismäßig häretische Gedanken fungierte. Die Science-fiction scheint wie geschaffen für die riskantesten Versuche unorthodoxen Denkens, für die wagemutigsten, der Front der institutionalisierten Wissenschaft vorauseilenden Spekulationen und für das Aussprechen von Hypothesen, die der Wissenschaftler noch nicht aussprechen darf, weil sie die Spitze eines aus lauter Vermutungen errichteten Turmbaus zu Babel bilden. Die Science-fiction könnte zum Exerzierplatz neuer, auch philosophischer Versuche werden (zur Domäne der »phantastischen Philosophie«, von der Borges träumte), zum Asyl einer soziologisch orientierten Phantasie und zur Brutstätte oder zum Aufbewahrungsort für Einfälle, die kritisch zu überprüfen die Wissenschaft noch nicht imstande ist.
Im Prinzip jedoch nutzt die Science-fiction diese epistemologischen Chancen nicht. Sie nutzt die Risikofreiheit, die sie zusammen mit dem Fortlassen des Zeichens logischer Assertion gewonnen hat, zur Produktion von Dummheiten. Sie tauscht die erkenntnistheoretische Antezipation gegen den gedanklichen Rückschritt ein, indem sie sich Märchen, Mythen und Magien zuwendet und Vorurteile, Xenophobien und Hintertreppenversionen irrationaler Doktrinen (aus dem Bereich der sogen. Parascience) »verwissenschaftlicht«. Genauso als ob ein Spieler, dem wir einen unbegrenzten Kredit eröffnet hätten, vom Tisch aufstünde und wegginge, um sich für dieses Geld zu betrinken. Man kann den Vergleich fast buchstäblich nehmen, denn die neueste Mode in der Science-fiction ist die »Umwandlung des Menschen in den Übermenschen« durch die »geheimnisvolle Weisheit des Orients«, ein »Virus aus dem Kosmos« oder irgendeine Pille:
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