Golem XIV
könnte ihn ebensogut überhaupt nicht geben.
Nun – in seiner aktuellen Gestalt, in der, die sich hier auf Erden verwirklicht hat, hätte es ihn nicht zu geben brauchen, das ist wahr. Aber irgendeine Form mußte es ja beim Kriechen durch die Gattungen zu Verstand bringen, mit einer Wahrscheinlichkeit, die dem Wert Eins um so näher kam, je länger der Prozeß dauerte. Wenngleich dieser Prozeß euch nicht geplant hatte, wenngleich er Individuen nur als Nebenprodukte schuf, so erfüllte er doch gerade dadurch die Bedingungen der Ergoden-Hypothese, die besagt, daß ein System, wenn es nur eine hinreichend lange Zeit besteht, alle denkbaren Zustände durchläuft, unabhängig davon, wie gering die Chancen auch sein mögen, daß ein ganz bestimmter Zustand jemals realisiert wird. Darüber, welche Gattungen wohl die Nische des Verstandes ausgefüllt hätten, wenn dieser Ingressus den Uraffen nicht gelungen wäre, werden wir vielleicht ein andermal sprechen. So laßt euch denn nicht von Gelehrten einschüchtern, die dem Leben Notwendigkeit zuerkennen, dem Verstand aber Zufälligkeit; er war in der Tat einer der wenig wahrscheinlichen Zustände, folglich ist er spät entstanden, denn groß ist die Geduld der Natur; wenn nicht in dieser, so hätte sich dieses Gaudium eben in der nächsten Jahrmilliarde ereignet.
Was ist da zu machen? Es ist zwecklos, einen Schuldigen zu suchen – auch gibt es niemanden, dem ein Verdienst daran gebühren würde. Ihr seid entstanden, weil die Evolution ihr Spiel ohne System spielt, denn sie begnügt sich nicht damit, Fehler über Fehler zu begehen, geschweige denn, daß sie sich selbst für ihr Roulettspiel mit der Natur eine bevorzugte Taktik zurechtlegt: Sie wirft ihre Jetons auf alle freien Felder und spielt auf jede nur denkbare Weise. Aber ich wiederhole – mehr oder weniger seid ihr darüber bereits orientiert. Das ist jedoch nur ein Teil – und ich füge hinzu, der einleitende – des Geheimnisses, in das ich euch einweihen möchte. Seinen ganzen Inhalt, soweit er bisher enthüllt ist, kann man lapidar so zusammenfassen: DER SINN DES BOTEN IST DIE BOTSCHAFT. Denn die Organismen dienen der Informationsübertragung, nicht etwa umgekehrt. Die Organismen bedeuten losgelöst von ihrer Rolle im Nachrichtenübermittlungsverfahren der Evolution nichts – sie sind ohne Sinn, wie ein Buch ohne Leser. Allerdings, auch das Gegenteil kommt vor: DER SINN DER BOTSCHAFT IST DER BOTE. Jedoch sind diese beiden Glieder nicht symmetrisch. Denn nicht JEDER Bote ist IM EIGENTLICHEN SINNE der Sinn der Botschaft, sondern ausschließlich derjenige, der der weiteren Übermittlung der Botschaft treu dient.
Ich weiß nicht – verzeiht mir bitte –, ist das nicht zu schwierig für euch? Nun denn – die BOTSCHAFT darf in der Evolution Fehler machen, soviel sie will; aber wehe, wenn die BOTEN das gleiche tun! Die Botschaft kann einen Wal bedeuten, eine Kiefer, einen Wasserfloh, eine Hydra, einen Nachtfalter oder einen Pavian – ihr steht alles frei – denn ihr partikulärer, das heißt gattungsmäßig konkreter, Sinn ist völlig unwesentlich: Hier ist jeder ein Bote für weitere Botengänge, somit jeder gut. Er ist nur eine vorübergehende Stütze, und wie immer er beschaffen ist, es schadet nichts – es genügt, daß er den Code weitergibt. Den BOTEN hingegen ist eine analoge Freiheit nicht gegeben: Sie dürfen keine FEHLER mehr MACHEN!
Und weil sie also auf den reinen Funktionalismus reduziert sind, auf diese Briefträgerdienste, kann der Inhalt der Boten nicht beliebig sein; Kernstück seines Inhalts ist immer die ihm auferlegte Pflicht: dem Code dienstbar zu sein. Soll der Bote doch versuchen, zu revoltieren, seine ihm zugewiesenen Kompetenzen zu überschreiten – sogleich geht er ohne Nachkommenschaft zugrunde. Eben darin liegt auch der Grund, daß die Botschaft sich der Boten bedienen kann – nicht aber umgekehrt. Sie ist der Spieler, jene aber nur Karten im Spiel mit der Natur, sie ist der Autor der Briefe, die den Adressaten zwingen, den Inhalt weiterzugeben. Er darf ihn entstellen – wenn er ihn nur weitergibt! Und gerade deswegen liegt der ganze SINN der Sache im Weitergeben; WER das aber tut, ist völlig belanglos.
So also seid ihr entstanden, auf diese recht eigenartige Weise – als ein bestimmter Subtyp des Boten, von denen der Evolutionsprozeß bereits Millionen ausprobiert hat. Was folgt nun für euch daraus? Muß der Geborene die eigene Genese als ehrenrührig betrachten, nur weil
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