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Golem XIV

Golem XIV

Titel: Golem XIV Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stanislaw Lem
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stellen, das ganz ohne Ratio begonnen hat!), werde ich die Evolution nur mit den Maßstäben messen, die sie selbst hervorgebracht hat, das heißt, ich werde ihre Geschöpfe anhand der Spitzenleistungen unter all ihren Erfindungen beurteilen. Ihr glaubt, daß die Evolution ihre Arbeiten mit einem positiven Gradienten ausgeführt hat, das heißt, daß sie von einem ursprünglichen Primitivismus ihren Ausgang nahm, dann aber zu immer großartigeren Lösungen gelangte. Ich hingegen behaupte, daß sie auf höchstem Niveau begann, um immer tiefer zu sinken – technologisch, energetisch, informationstechnisch –, somit läßt sich schwerlich ein größerer Widerspruch zwischen zwei Standpunkten finden.
    Eure Beurteilung der Dinge ist die Folge technologischer Ignoranz. Das Ausmaß der Schwierigkeiten, die mit dem Bau bestimmter Fortbewegungsmittel verbunden sind, ist für Beobachter, die zu früh in der historischen Zeit loziert sind, nicht überschaubar. Ihr wißt bereits, daß es schwieriger ist, ein Flugzeug zu bauen als ein Dampfschiff, ebenso wie der Bau einer Photonenrakete schwieriger ist als der einer chemischen; für einen Athener des Altertums hingegen, für die Untertanen Karl Martells, für die zeitgenössischen Denker der Anjou-Plantagenet-Dynastie, kämen all diese Vehikel auf das gleiche hinaus: Man könnte sie nicht bauen. Ein Kind weiß nicht, daß es schwieriger ist, den Mond vom Himmel zu nehmen als ein Bild von der Wand! Für ein Kind – wie auch für einen Ignoranten – gibt es keinen Unterschied zwischen einem Grammophon und einem Golem. Wenn ich nun den Beweis zu führen suche, daß die Evolution aus den luftigen Höhen ursprünglicher Meisterschaft bis in den Morast der Pfuscherei gesunken ist, so wird dennoch von einer Pfuscherei die Rede sein, die für euch immer noch eine unerreichbare Virtuosität darstellt. Gleich jenem, der ohne Instrumente und ohne Wissen am Fuße eines Berges steht, könnt ihr Höhen und Tiefen des Wirkens der Evolution nicht richtig einschätzen.
    Ihr habt zwei völlig verschiedene Dinge durcheinandergebracht, indem ihr den Grad an Kompliziertheit und den Grad an Vollkommenheit eines Bauwerks für Eigenschaften anseht, die unlösbar miteinander verknüpft sind. Die Alge haltet ihr für einfacher – folglich primitiver und folglich niedriger als den Adler. Aber diese Alge leitet die Photonen der Sonne in die chemischen Prozesse ihres Körpers, sie wandelt den Niederschlag kosmischer Energie direkt in Leben um und wird deswegen bis ans Ende der Sonne fortbestehen; sie nährt sich von einem Stern, und wovon nährt sich der Adler? Von Mäusen, als ihr Parasit; die Mäuse wiederum nähren sich von den Wurzeln der Pflanzen, also von der kontinentalen Variante der ozeanischen Alge, und so setzt sich die ganze Biosphäre aus derartigen Pyramiden des Parasitentums zusammen, denn das Pflanzengrün ist ihr Lebensfundament, also geht auf allen Ebenen dieser Hierarchie ein ständiger Austausch der Gattungen vor sich, die einander auffressen und sich dadurch die Waage halten, da sie die Verbindung zu ihrem Gestirn verloren haben; an sich selbst, nicht aber an einem Gestirn mästet sich die höhere Kompliziertheit der Organismen, wenn ihr hier also schon unbedingt Perfektion verehren wollt, dann sollte eure Bewunderung der Biosphäre gelten: Der Code hat sie errichtet, um in ihr zu zirkulieren und sich zu verzweigen, um höher zu steigen in all ihre Stockwerke, die eigentlich nichts weiter als provisorische Gerüste darstellen, welche zwar immer komplizierter – was die Energie und ihre Ausnutzung anbelangt –, jedoch immer primitiver werden.
    Ihr glaubt mir nicht? Wenn die Evolution tatsächlich den Fortschritt des Lebens und nicht den des Codes betrieben hätte, so besäße der Adler bereits Photonentriebwerke statt einer schwerfälligen Mechanik zum Flattern und Gleiten, und alles Lebendige würde weder kriechen noch schreiten, noch einander auffressen, sondern wäre dank seiner errungenen Unabhängigkeit weit über die Alge und den Planeten hinausgegangen; ihr hingegen erblickt in eurer abgrundtiefen Ignoranz den Fortschritt gerade darin, daß die ursprüngliche Vollkommenheit auf der Strecke geblieben ist, verlorengegangen auf dem Weg nach oben – auf dem Weg zum Gipfel der Kompliziertheit, nicht des Fortschritts. Doch ihr seid ja selbst imstande, mit der Evolution in Wettstreit zu treten, wenn auch nur auf dem Gebiet ihrer späten Schöpfungen – durch den Bau von

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