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Golem XIV

Golem XIV

Titel: Golem XIV Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stanislaw Lem
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Artikulationsraum, als Sammlung der Gesetze von Konjugation und Deklination. Nicht mehr, aber auch nicht weniger, was als eine Unzahl von Chancen ausgelegt wird, nicht aber als Automatik der Realisation! Denn auch in der Sprache, die ihr redet, kann man etwas Kluges oder etwas Dummes aussprechen, man kann in ihr die Welt widerspiegeln oder nur den wirren Geist des Sprechenden. Möglich ist auch ein höchst kompliziertes Gestammel!
    So sind denn – ich komme zum Ausgangspunkt zurück – entsprechend den gigantischen einleitenden Aufgaben zwei gigantische Realisationen entstanden. Erzwungen war jedoch diese Genialität und daher nur von kurzer Dauer! Dann wurde sie sinnlos vergeudet. Die Kompliziertheit höherer Organismen… wie hoch steht sie doch bei euch im Kurs! Und tatsächlich, die Chromosomen eines Reptils oder eines Säugetiers, aufgefädelt auf einem Faden, sind tausendmal länger als der gleiche Faden bei der Amöbe, dem Urtier oder der Alge. Doch worin wurde dieser in ganzen Epochen mühsam angehäufte Überfluß schließlich investiert? Eine zwiefache Komplikation war das Ergebnis: die der Embryogenese sowie die ihrer Folgen. In erster Linie aber führte dieser Überfluß zur Komplikation der Embryogenese, denn die fetale Entwicklung ist eine zielgerichtete Bahn in der Zeit, wie die Flugbahn eines Geschosses im Raum; ebenso wie ein Zittern des Laufes während des Visierens zwangsläufig zu einer riesigen Abweichung vom Ziel führt, so würde jede Defokussierung der fetalen Etappen den ganzen Ablauf ins vorzeitige Verderben stürzen. Hier, und nur hier, hat die Evolution sich einmal richtig ins Zeug gelegt. Hier handelte sie unter strenger Kontrolle, die von einem Ziel bestimmt war – der Erhaltung des Codes –, und deswegen wird hier größte Sorgfalt und Großzügigkeit der Mittel spürbar. Das ist auch der Grund, weshalb die Evolution den Genfaden der Embryogenese anvertraut hat, das heißt nicht dem fertigen Bau der Organismen, sondern ihrem Aufbau.
    Die Kompliziertheit höherer Organismen ist kein Erfolg, kein Triumph, sondern eine Falle, denn sie verwickelt das Leben in ein Getümmel zweitrangiger Auseinandersetzungen und nimmt ihm dadurch sämtliche Chancen auf höhere Entwicklung, als da wären: die Ausnutzung der Quanteneffekte im großen Maßstab, die Dienstbarmachung der Photonen für die Ordnung des Organismus – ich will gar nicht alle Möglichkeiten aufzählen! Die Evolution jedoch war auf die schiefe Bahn ständig wachsender Komplikationen geraten, es gab kein Zurück, denn je mehr miserable Techniken, desto mehr korrigierende Interventionen auf höherer Ebene und somit Störungen und somit neue Verwicklungen nächster Ordnung.
    Die Evolution rettete sich nur durch die Flucht nach vorn – in eine banale Variabilität, in einen scheinbaren Formenreichtum, einen scheinbaren, denn es handelt sich nur um Agglomerationen von Plagiaten und Kompromissen; sie macht dem Leben das Leben schwer, indem sie durch allzu bequeme Innovationen triviale Dilemmata schafft. Der negative Gradient negiert weder Verbesserungen noch einen spezifischen Äquilibrismus ihrer Handlungen, sondern er setzt lediglich die Minderwertigkeit des Muskels gegenüber der Alge, des Herzens gegenüber dem Muskel fest; denn dieser Gradient bedeutet schlicht, daß man die elementaren Aufgaben des Lebens nicht viel besser lösen kann, als es die Evolution getan hat, daß sie aber den Aufgaben höherer Ordnung aus dem Wege gegangen ist, unter diesem Hindernis hindurchgekrochen ist, statt es zu nehmen, diese Chance vergeudet hat: Eben dies bedeutet der Gradient, und nur dies.
    War das der Fluch alles Irdischen? Ein schicksalhaftes Verhängnis, die traurige Ausnahme von einer besseren Regel? Weit gefehlt! Die Sprache der Evolution ist – wie jede Sprache – vollkommen in ihren schöpferischen Potenzen, doch war sie eben blind. Sie hat das erste gigantische Hindernis genommen, nachdem sie aber diesen Gipfel erklommen hatte, begann sie wirres Zeug zu reden – es ging mit ihr bergab, im buchstäblichen Sinne, wie die zunehmende Inferiorität ihrer Werke bezeugt. Weshalb ging sie gerade diesen Weg? Diese Sprache wirkt durch Artikulationen, die sich an der molekularen Basis der Materie zusammenfügen, somit arbeitet sie von unten nach oben, und dadurch sind ihre Sätze nur Vorschläge an den Erfolg. Vergrößert zu Körpern, gelangen diese Vorschläge in den Ozean oder aufs Festland – die Natur wahrt jedoch Neutralität, denn sie

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