GOLIATH - Die Stunde der Wahrheit
füreinander bestimmt waren, warum hegte sie dann diese Gefühle für ihn?
Schließlich nickte sie. Vielleicht würde Prinz Dummerchens Glück anhalten, und man würde sie nicht in London ins Gefängnis sperren. Und vielleicht konnte sie sogar an seiner Seite bleiben, als Verbündete und Freundin.
31. KAPITEL
Die Ostküste der Vereinigten Staaten war den ganzen Tag in Sicht gewesen, weiße Strände und von der Salzluft verkrüppelte Bäume, Marschen und niedrige grüne Hügel, dazu einige Inseln vor Carolina. Auf den letzten tausend Meilen hatte es keine Verzögerungen mehr gegeben, und die Leviathan näherte sich ihrem Ziel. Deryn hörte, wie die Mannschaft auf den Gängen unterwegs war. Die Geräusche machten ihr das Herz schwer.
Spät in der Nacht würde Eddie Malone in den Büros der New York World eintreffen und seine Story über Deryn Sharp abliefern, über das tapfere Fliegermädchen, das den britischen Air Service zum Narren gehalten hatte. Morgen würde ihr Geheimnis in der World verkündet, und am Tag darauf würden es alle Zeitungen Amerikas nachdrucken.
Deryn übte mit ihrem Knie und beachtete das Summen der Bienen nicht. Sie bereitete sich darauf vor, mit dem Stock zu gehen, den der liebenswerte alte Klopp für sie gemacht hatte. Er war aus einer Holzschöpfung gedrechselt, hatte jedoch oben einen mechanistischen Messinggriff. Sie hatte keine Ahnung, ob der Kapitän sie wie einen blinden Passagier über Bord werfen oder sie ins Schiffsgefängnis werfen würde, aber was auch immer geschah, sie wollte nicht hilflos sein.
Es klopfte an der Tür.
Die öffnete sich, ehe Deryn hereinbitten konnte, und herein stolzierte Miss Eierkopf, ihren Loris auf der Schulter und Tazza im Schlepptau. Der Beutelwolf sprang auf Deryn zu und bohrte seine Schnauze in ihre Handfläche.
»Ich wünsche einen angenehmen Nachmittag, Mr. Sharp.«
»Guten Tag, Ma’am.« Deryn hielt den Stock in die Höhe. »Sie müssen mir vergeben, wenn ich nicht aufstehe.«
»Keine Sorge. Es scheint, Tazza vermisst Sie.«
»Vermissen Sie mich nicht, Ma’am?«
Dr. Barlow schnaubte. »Was ich vermisse ist, dass jemand regelmäßig mit Tazza Gassi geht. Mr. Newkirk hat sich als recht unzuverlässig erwiesen.«
»Tut mir leid, das zu hören, Ma’am. Aber er musste meine Pflichten zusätzlich zu seinen eigenen übernehmen«, sagte Deryn und runzelte dann die Stirn. Es machte nicht mehr viel Sinn zu katzbuckeln, da doch ihre Laufbahn sowieso vorüber war. »Haben Sie nie daran gedacht, selbst mit Tazza Gassi zu gehen?«
Dr. Barlows Augen wurden ein wenig größer. »Was für ein eigenartiger Vorschlag.«
»Äußerst unappetitlich«, sagte ihr Loris.
»Armes Tierchen.« Deryn streichelte dem Beutelwolf den Kopf. »Nun, schicken Sie Mr. Newkirk vorbei, und ich sage ihm, dass er ein Oberpenner ist.«
»Oberpenner«, gluckste Bovril.
»Was für eine Ausdrucksweise , Mr. Sharp!«, rief Dr. Barlow. »Fühlen Sie sich auch wirklich wieder besser?«
Deryn starrte auf ihr Bein. Die Uniform passte zwar über die Kompresse, aber ein Klumpen war dennoch sichtbar. »Die Wunde am Arm verheilt gut, aber beim Knie ist Dr. Busk nicht so sicher.«
»Das hat er mir auch gesagt.« Miss Eierkopf setzte sich an Deryns Schreibtisch und schnippte mit den Fingern, damit Tazza zu ihr zurückkam. »Wenn Sie sich die Bänder hinter der Kniescheibe gerissen haben, könnte es sein, dass Sie nie wieder an den Webeleinen hinaufklettern.«
Deryn blickte zur Seite, denn plötzlich begannen ihre Augen zu brennen. Nun ja, man würde sie sowieso nie wieder in die Nähe der Webeleinen lassen, wenn die Offiziere erfuhren, dass sie ein Mädchen war. Trotzdem tat es weh, falls Ma und die Tanten am Ende recht behalten würden. Wenn sie nun überhaupt kein Flieger mehr sein könnte ?
»Dr. Busk ist sich dessen noch nicht sicher, Ma’am.«
»Nein, ist er nicht. Aber mit dem Pech könnte sich auch eine Gelegenheit auftun.«
»Pardon, Ma’am?«
Dr. Barlow stand wieder auf und begann, die Kabine zu inspizieren, wobei sie mit dem weißen Handschuh über das Holz strich. »Während der letzten zwei Monate haben Sie sich als nützlich erwiesen, Mr. Sharp. Sie sind wirklich gut zu gebrauchen, wenn die Lage schwierig ist, und sie können ausgesprochen pfiffig improvisieren. Sie verfügen sogar, wenn Sie nicht in Ihrem Krankenbett vor sich hin brüten, über ein gewisses Geschick für Diplomatie.«
»Aye, ich glaube schon.«
»Darf ich Sie fragen, warum Sie nie daran gedacht
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