GOLIATH - Die Stunde der Wahrheit
Wasser.
Doch jetzt schoss ihr ein viel schlimmerer Gedanke durch den Sinn.
»Vielleicht werfen sie mich gar nicht in New York von Bord, Alek. Möglicherweise nehmen sie mich mit nach London und stellen mich vor Gericht.«
»Hast du denn irgendwelche Gesetze gebrochen?«
Sie verdrehte die Augen. »Ungefähr ein Dutzend, Prinz Dummerchen. Die Admiralität wird es nicht an die große Glocke hängen wollen, aber trotzdem werfen sich mich vielleicht in den Bunker. Und dann sehen wir uns wohl nie wieder.«
Alek schwieg eine Weile und blickte ihr in die Augen. Es war, als wollte er wieder einen seiner dummen Sprüche zum Besten geben, bloß blieb seine Miene dabei todernst.
Schließlich musste sie den Blick abwenden. »Du solltest Bovril mitnehmen. Du warst dabei, als er geschlüpft ist, und im Gefängnis werden sie mir nicht erlauben, ein Tierchen zu halten.«
»Du kannst fliehen«, sagte Alek. »Wenn es mir gelungen ist, das Schiff zu verlassen, kannst du das erst recht.«
»Alek.« Sie zeigte auf ihr Knie. »Es wird noch Tage dauern, bis ich wieder richtig gehen kann, und Wochen, bis ich klettern kann.«
»Oh.« Vorsichtig setzte er sich auf das Bett und starrte ihr verwundetes Bein an. »Was für ein Idiot ich bin, das zu vergessen.«
»Nein.« Sie lächelte. »Also, aye. Aber nicht auf die böse Art. Du bist nur ein …«
»Ein nutzloser Prinz.«
Deryn schüttelte den Kopf. Alek war eine Menge Sachen, aber bestimmt nicht nutzlos.
»Ich hab’s«, sagte er. »Ich erkläre dem Kapitän, Mr. Tesla brauche deine Hilfe. Dann muss er dir erlauben, mit mir zu kommen.«
»Er wird Befehle aus London anfordern. Es ist ja nicht so, als würde es im Handbuch der Aeronautik ein Kapitel geben, wie man mit verkleideten Mädchen zu verfahren hat.«
»Und wenn ich …«, begann er und seufzte dann.
Sie lachte trocken. »Brüllender Prinz Alek, immer glaubt er, er könnte alles richten.«
»Was ist denn falsch daran, wenn man versucht, Dinge zu richten.«
»Du … immer …« Sie schüttelte den Kopf. Es hatte keinen Zweck, ständig darauf herumzureiten. Der Junge würde nur wütend werden … oder schlimmer noch, traurig. »Nichts.«
»Mr. Sharp«, sagte Alek und zog die Augenbrauen hoch. »Sie haben doch keine Geheimnisse vor mir?«
»Keine Geheimnisse«, sagte Bovril und gluckste.
»Brüllend blöde Versprechen«, stöhnte Deryn. Während sie hier in den letzten zwei Tagen in ihrer Kabine gelegen hatte, waren ihr unzählige verrückte Gedanken durch den Kopf gegangen. Und die sollte sie Alek alle erzählen?
» Mr. Sharp?«, gab Bovril ihr das Stichwort.
Deryn warf dem Tierchen einen Blick zu, um es zum Schweigen zu bringen, und wandte sich an Alek.
»Es ist doch so, Hoheit. Nach dem Tod deiner Eltern ist für dich die Welt untergegangen, und es nimmt kein Ende. Das muss schrecklich für dich sein, sich jeden Tag daran zu erinnern. Aber ich denke, du bringst da zwei Dinge durcheinander.«
»Welche zwei Dinge?«
»Deine Welt und die der anderen.« Deryn streckte den Arm aus und ergriff seine Hand. »In jener Nacht hast du alles verloren – dein Zuhause, deine Familie. Du bist nicht einmal mehr ein richtiger Mechanist. Aber indem du den Krieg beendest, wirst du das nicht wiedergutmachen, Alek. Selbst wenn du zusammen mit diesem Eierkopf den ganzen brüllenden Planeten rettest, brauchst du trotzdem … noch etwas anderes.«
»Ich habe dich«, sagte er.
Sie schluckte und hoffte, er meinte das ernst. »Selbst wenn die mich wieder in Kleider stecken?«
»Natürlich.« Er betrachtete sie von oben bis unten. »Obwohl ich mir das kaum vorstellen kann.«
»Dann versuche es erst gar nicht.«
Sie sahen beide Bovril an und erwarteten einen Kommentar von ihm. Doch das Tierchen starrte sie bloß mit großen glänzenden Augen an.
Einen Moment später sagte Alek: »Ich muss diesen Krieg beenden, Deryn. Das ist alles, was mich antreibt. Verstehst du?«
Sie nickte. »Natürlich.«
»Aber ich werde alles in meiner Macht Stehende tun, damit sie dich nicht wegholen.«
Sie holte tief Atem und ließ ihre Augen zufallen. »Versprochen?«
»Versprochen. Wie du schon in Tokio gesagt hast: Wir sind dazu bestimmt, zusammen zu sein.«
Deryn hätte gern zugestimmt, aber sie hatte ihm versprochen, ihn nicht anzulügen, und sie war nicht sicher, ob es tatsächlich die Wahrheit war. Wenn sie dazu bestimmt waren, richtig zusammen zu sein, warum war er dann als Prinz und sie als Bürgerliche geboren worden? Und wenn sie nicht
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