GOLIATH - Die Stunde der Wahrheit
von Manhattan entlanggingen, spürte Deryn ihr Knie. Den ganzen Tag über hatte es nicht wehgetan, doch die Herbstkühle und Lilits schnelles Tempo sorgten dafür, dass es wieder zu brummen begann. Als Deryn ihr Gewicht immer mehr auf den Stock verlagerte, zog Lilit eine Augenbraue hoch.
»Das ist nicht nur Getue?«
»Ich bin ein bisschen ungeschickt mit meinen Gleitflügeln gelandet. Vielleicht sollten wir nicht so schnell gehen.«
»Sicherlich.« Lilit wurde ein wenig langsamer. »Aber kannst du denn noch kämpfen?«
Deryn schnaubte. »Du hast dich so gut wie gar nicht geändert, oder?«
»Die Welt hat sich nicht geändert.« Lilit zog ihr gewagt ausgeschnittenes Kleid zurecht und enthüllte dabei eine winzige Mauser-Pistole, die sie am Bein trug. »Ich wünschte, du würdest nicht diese Uniform vom Air Service tragen. Sie ist ein bisschen auffällig.«
Deryn blickte sich um. Auf der Straße waren viele Menschen, Dampfbahnen und Handkarren unterwegs. Sie hörte Satzfetzen in verschiedenen Sprachen, und sie hatte sogar einige deutsche Ladenschilder gesehen.
Sie zuckte mit den Schultern. »Ich bin Flieger. Das ist eben meine Uniform.«
»Ich würde es vorziehen, wenn du türkische Kleidung tragen würdest«, meinte Lilit. »Vielleicht sollten wir uns von der Straße verziehen und uns an einen dunklen Ort verkriechen. Hättest du Lust auf einen Film?«
»Aye, hätte ich«, sagte Deryn. Sie war schon ausgesprochen neugierig auf dieses Spektakel, seit Alek davon so in Bann geschlagen war. »Gibt es hier ein Kino?«
Lilit lächelte. »In New York City? Ja, so einige.«
Sie bogen an der nächsten Straße rechts ab, und einen Block weiter entdeckte Deryn ein riesiges Schild. Es war mit kleinen elektrischen Lichtern übersät, die im Takt an- und ausgingen, als würden kleine Tierchen darüber hinweghuschen. In der Mitte stand in großen Buchstaben geschrieben: Ambassador-Kino – durchgehend Wochenschau .
Während sie zum Kartenschalter gingen, suchte Deryn ihre Taschen ab, aber natürlich hatte sie keine einzige Münze dabei.
»Tut mir leid, Lilit, aber ich habe kein amerikanisches Geld.«
»Nun, du hast dein Leben für die Revolution eingesetzt«, sagte das Mädchen und holte einen zusammengefalteten Dollar aus einer versteckten Tasche ihres Mantels. »Ich denke, da könnte dir die osmanische Republik eine Kinokarte spendieren.«
Das Kino ähnelte eigentlich einem ganz gewöhnlichen Theater. Mehrere Hundert Stühle standen vor einer breiten Bühne. Doch anstelle einer richtigen Bühne gab es nur ein silberweißes Rechteck an der Wand. Jetzt am späten Nachmittag saß nur eine Handvoll Zuschauer im Raum. Während Deryn und Lilit sich im hinteren Teil Plätze suchten, wurden die Gaslampen abgedunkelt.
»Warum müssen wir eigentlich so heimlich tun?«, fragte Deryn, nachdem sie sich niedergelassen hatten. »Hast du Angst, die Deutschen könnten wütend werden?«
»Das osmanische Volk durfte sich lange Zeit über die Großzügigkeit des Kaisers freuen. Wir brauchen weiterhin seine Ingenieure, damit unsere Maschinen laufen.«
»Aye, natürlich.« Ganz Istanbul wimmelte nur so von Dampfrohren und mechanischen Apparaten.
»Die Deutschen suchen verzweifelt neue Verbündete.« Lilit beugte sich zu ihr hinüber. »Österreich-Ungarn steht vor dem Zusammenbruch. Vor einigen Wochen haben sie zwar einen russischen Angriff zurückgeschlagen, doch die Kampfbären haben sich in den Wäldern verstreut. Und diese Kreaturen müssen fressen.«
Deryn schluckte und erinnerte sich an die verhungernden Bären in Sibirien. In einem dicht bevölkerten Land würden die Tierchen schlimme Schäden anrichten. Die Bewohner mussten sich fühlen, als würden sie in einem schrecklichen uralten Märchen leben, in dessen Wäldern es von grässlichen Ungeheuern wimmelte.
Lilit zuckte mit den Schultern. »Deshalb tun wir so, als wollten wir uns den Mechanisten anschließen. Dieser Trick erweist sich bislang als profitabel.«
Plötzlich ratterte es hinter ihnen, und Deryn schaute sich um. Hinter dem Publikum stand eine riesige Maschine mit einem einzigen Auge, und daran drehten sich große Spulen. Aus dem Auge strahlte Licht auf die Leinwand.
Zuerst huschten verschwommene Schemen über die Leinwand, genauso wie Alek es beschrieben hatte. Doch nachdem sich Deryns Augen binnen weniger Momente daran gewöhnt hatten, tauchte ein verrauchter Zuschauersaal auf, in dessen Mitte zwei geisterhaft bleiche Boxer in einem Ring von der Menschenmenge
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