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Gondeln aus Glas

Gondeln aus Glas

Titel: Gondeln aus Glas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicolas Remin
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Seite der Stadt wieder aufzutauchen.
    Was natürlich so nicht stimmte, denn in Wirklichkeit war es die Erde, die sich bewegte, sich irgendwie, äh … drehte? In der Schule hatte man davon gesprochen, aber der Lehrer war eilig darüber hinweggegangen, hatte es fast vertuscht, so als wäre es unschicklich, darüber zu reden. Und war da nicht noch etwas mit einer schiefen Erdachse? Das hatte er nie verstanden. Schief in Bezug auf was? Kein Wunder jedenfalls, dachte er, dass ihn hin und wieder dieses Schwindelgefühl überkam.
    Kaum zweihundert Schritte von ihm entfernt ragten die Mauern von San Michele, der Friedhofsinsel, aus dem Wasser der Lagune heraus – unvenezianisch klar, wie von Gentile Bellini mit einem spitzen Bleistift gezeichnet. Eine Gondel glitt lautlos vorüber, und ein paar Möwen flogen über seinen Kopf hinweg. Er schloss die Augen, und plötzlich wusste er, dass es sich gleich ereignen würde. Geriet man in die richtige Stimmung, geschah alles wie von selbst. Er ließ sich auf den Stufen der Ponte dei Gesuiti nieder und zog sein Notizbuch hervor, gerade noch rechtzeitig, um die Vision festzuhalten: eine Abfolge von Wörtern, prächtig, leuchtend und aufgereiht wie kostbare Perlen auf einer Schnur. Er kramte einen Bleistift aus der Innentasche seines Gehrocks und leckte ihn vorsichtig an. Dann schrieb er den Anfang seiner Geschichte, ohne ein einziges Mal abzusetzen: Der Sommerabend hatte begonnen, die Welt in seine geheimnisvolle Umarmung zu nehmen. Fern, weit im Westen, ging die Sonne unter, und die letzte Glut des nur allzu schnell entschwindenden Tages weilte lieblich noch auf See und Strand und nicht zuletzt auf dem stillen Kirchlein, dem von Zeit zu Zeit die Stimme des Gebetes entströmte.

    Entströmte eine Stimme? War das das richtige Wort?
    Nein – eigentlich nicht. Aber das mit dem Kirchlein war ihm regelrecht aus dem Bleistift geströmt, und vielleicht hatte er deshalb dieses Wort benutzt. Auf jeden Fall gefiel ihm die Formulierung weilte lieblich noch auf See und Strand. Er fand, sie hatte einen gefühlvollen Schwung und verlieh dem verlöschenden Tag, dem Sterben des Lichtes etwas Versöhnliches.
    Und war es nicht das, worum es immer wieder ging?
    Den Schmerz des Abschieds – den Tod – mit Hilfe der Kunst in etwas zu verwandeln, das uns trotz all seiner Grausamkeit durch die Originalität des Gedankens und die Raffinesse der Ausführung entzückte? Und war ihm das nicht bereits dreimal in vorbildlicher Weise gelungen? Wieder kam ihm schmerzlich zu Bewusstsein, dass er der Einzige war, der wusste, welche Kunstwerke er geschaffen hatte.
    Vielleicht, dachte er, sollte er irgendwann seine Memoiren zu Papier bringen. Oder sollte er zuerst seine Memoiren schreiben und dann sein Leben nach den Memoiren gestalten? Das war eine interessante Frage. Während er langsam die Fondamenta entlanglief, die an der Sacca della Misericordia endete, dachte er darüber nach und kam zu dem Schluss, dass dies die entschieden bessere Reihenfolge war. Ließ man das Leben einfach so abrollen, konnte man nie sicher sein, was für ein Stoff sich für die Memoiren ergab.
    Schrieb man jedoch zuerst die Memoiren, dann war das Leben bereits eingesammelt, gewissermaßen unter Dach und Fach – was konnte da noch schief gehen? Auf jeden Fall war diese Reihenfolge wesentlich künstlerischer. Und hieß es nicht schon im Buch der Bücher: Am Anfang war das Wort …?
    Jetzt hatte er das Ende der Fondamenta Nuove erreicht und stand vor dem quadratischen Wasserbecken der Sacca della Misericordia. Als er den Kopf drehte, sah er einen blassen Halbmond am östlichen Horizont aufgehen. Perfekt. Es würde weder zu hell noch zu dunkel sein. Sein Plan sah vor, nicht erkannt zu werden, aber im Grunde, dachte er, kam es nicht darauf an. Es würde ohnehin keine Zeugen geben.
    Jedenfalls keine überlebenden Zeugen. Seine Uhr zeigte ihm, dass es Punkt zehn war. In einer guten Stunde wäre alles erledigt.
    Nachdem klar geworden war, dass es keine andere Lösung gab, hatte er ihn die letzten fünf Tage sorgfältig beobachtet. Die Idee, es wie einen Unfall aussehen zu lassen, hatte er wieder aufgegeben. Zwar entsprach ein Vorgehen, bei dem nicht nur der Mörder unentdeckt blieb, sondern auch die Tat selbst, in hohem Maße seinen künstlerischen Vorstellungen.
    Aber dieser Tron und sein Sergente waren keine Dummköpfe, und je raffinierter er die Sache inszenierte, desto leichter konnte ihm ein Fehler unterlaufen. Entscheidend war

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