Gondeln aus Glas
kurzen, kraftvollen Bogen nach oben, verfehlte Orlows Kehle, aber es schlitzte ihm die Stirn über der linken Augenbraue bis auf die Knochen auf. Der Oberst stieß einen spitzen Schrei aus, und er hieb zum zweiten Mal nach seiner Kehle. Aber trotz des Schocks, unter dem der Oberst stand, zog er den Kopf so schnell zurück wie eine Klapperschlange und streckte ihm seine rechte Hand mit nach außen gerichteter Fläche entgegen.
Die Klinge fuhr durch die Basis aller vier Finger und durchtrennte die Sehnen. Im Halbdunkel des Mondlichtes sah er Zeige-, Ring- und Mittelfinger wie schläfrige Marionetten nach vorne kippen. Plötzlich fielen auch Orlows Arme schlaff nach vorne, so als hätte er ihm auch die Muskulatur seiner Arme durchtrennt. Der Oberst – es war nicht klar, ob er wirklich begriffen hatte, was mit ihm geschah – hob unvorsichtigerweise den Kopf, und der dritte Hieb, mit aller Kraft von der Seite geführt, riss seine Kehle förmlich auf. Orlow fiel mit einem dumpfen Poltern auf die Kaimauer, dann drehte er sich mit einem gurgelnden Stöhnen auf die rechte Seite, um zu sterben.
Als er sich bückte, konnte er sehen, dass Orlows Herz immer noch hektisch Blut aus der klaffenden Halswunde pumpte – Blut, das in einem dunklen, glänzenden Strom die Kaimauer herablief. Dann versiegte der Blutstrom plötzlich, und Orlow war tot. Er wischte sich die blutigen Hände an Orlows Gehrock ab und stand auf. Ein Gedicht fiel ihm ein:
He cut his throat from ear to ear
His brains he battered in:
His name was Mr. William Weare,
He dwelt in Lyons Inn.
Nein, das waren keine übermäßig geistreichen Verse.
Aber dass er sich jetzt – in dieser Situation – überhaupt an Verse erinnern konnte, erfüllte ihn mit Stolz. Es zeigte, dass er weit davon entfernt war, die Nerven zu verlieren. Offenbar traf es zu, was er einmal gelesen und sich gemerkt hatte: dass im Herzen eines jeden Künstlers ein Eissplitter steckt. Zwar fiel ihm nicht ein, wo er das gelesen hatte, aber es war ein Satz, dem er mit ganzem Herzen zustimmte.
Orlows rechter Arm hing bereits über der Kaimauer, und es reichte ein kleiner Fußtritt, um ihn in die Sacca della Misericordia zu befördern. Der Wasserspiegel riss auf und kräuselte sich zu zierlichen Wellen, die ein paar Augenblicke lang im Mondlicht glitzerten. Die steigende Flut würde verhindern, dass Orlows Leiche in die offene Lagune trieb. Das war genau das, was er wollte, denn so würde irgendjemand die Leiche im Laufe des Vormittags finden – und dann öffnete sich der Vorhang für das große Finale.
40
Er hielt sich dicht neben ihr – nicht weil er fürchtete, sie in der Dunkelheit zu verlieren, sondern weil er den Geruch (Jasmin?) mochte, der von ihr ausging und sich mit dem Duft des Rosenstraußes vermischte, den er in der Hand hielt. Dass sie damit einverstanden gewesen war, sich nach der Vorstellung von ihm nach Hause begleiten zu lassen, hatte ihn nicht überrascht. Bouquets aus duftenden Rosen verfehlten ihre Wirkung selten. Der Strauß hatte ihn wieder einiges gekostet, aber, dachte er, von nichts kommt nichts. Jetzt trug er die Rosen in der linken Hand, während sich die rechte in Bereitschaft hielt, um in Momenten der Gefahr ihren Arm zu ergreifen – etwa beim Überqueren einer Brücke. Da musste er ihren Arm ergreifen, denn wie leicht könnte sie über das Geländer stürzen und in einem dieser rios versinken. Er hoffte, dass sie möglichst viele Brücken überquerten. Wenn die Brücken dicht aufeinander folgten, würde er ihren Arm sicherheitshalber nicht mehr loslassen.
Er hatte sie vor einer Woche auf der Bühne des Malibran entdeckt: eine niedliche Zofe, klein, brü nett, mit kohlschwarzen Augen, die im zweiten Akt den unsterblichen Satz sprechen durfte: Frau Gräfin, es ist angerichtet. Das war nicht gerade eine Rolle, die man groß ausbauen konnte, aber vermutlich lag das auch nicht in ihrer Absicht. Ihren Namen herauszufinden war kein Problem gewesen. Zwei Tage später hatte er ihr das erste Bouquet in die Garderobe geschickt, am Bühnenausgang des Malibran auf sie gewartet und sich nach einer stummen Verbeugung entfernt. Das Bouquet, das er ihr am nächsten Tag in die Garderobe geschickt hatte, war ein wenig größer gewesen, und diesmal hatten sie nach der Vorstellung ein paar Worte gewechselt. Ein weiterer Strauß würde sie erfreuen, hatte sie lächelnd angedeutet, und jetzt gingen sie, Seite an Seite, fast schon wie alte Bekannte, durch einen Teil Cannaregios,
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