Gondeln aus Glas
eigentlich nur, dass es schnell ging und es kein Geschrei gab. Schon das war eine Kunst.
Als er herausgefunden hatte, was ihn jede zweite Nacht zum Rio della Sensa trieb, in eine schäbige Pension, die den putzigen Namen Pensione Apollo trug, wäre er fast in Gelächter ausgebrochen. Aber überrascht war er eigentlich nicht gewesen. Den zackigen Soldaten hatte er ihm nie ganz abgenommen.
Und waren ihm nicht bereits vor Jahren entsprechende Gerüchte zu Ohren gekommen? Auch hatte es ihn nicht überrascht, dass eine gewisse Regelmä ßigkeit bei diesen Besuchen erkennbar war. Dreimal hatte er das Hotel gegen halb elf verlassen, war zum Molo gelaufen, um sich eine Gondel zu nehmen, die ihn an der Fondamenta di San Felice absetzte. Von dort aus ging er zu Fuß zur Pensione Apollo – ein Weg von ungefähr fünf Minuten. Genau in diesen fünf Minuten müsste es geschehen.
Heute Morgen hatte er alle möglichen Varianten durchgespielt und war dann zu dem Schluss gekommen, dass es besser war, sich ein paar Dutzend Schritte lang an seine Fersen zu heften, als ihm hinter irgendeiner Ecke aufzulauern. Er würde Schritte hinter sich hören, Schritte, die sich näherten, aber das war noch lange kein Grund, sich umzudrehen und auf Gefechtsstation zu gehen.
Er hob den Kopf und sah, dass der Sonnenuntergang am westlichen Horizont zu einem schmalen, matt schimmernden Band zusammengeschrumpft
war. Der nächtliche Himmel darüber wirkte wie eine große Leinwand, auf die niemals etwas Böses oder Grausames gemalt worden war. Er starrte noch einen Augenblick lang auf den schwarzen Wasserspiegel der Sacca della Misericordia, dann setzte er sich langsam in Bewegung und bog nach ein paar Schritten in die Calle Lunga Santa Caterina ein. An der Brücke, die über den Rio di San Felice führte, würde er im Schutz des Sottoportego dei Tagliapiera auf ihn warten – die matte Ölfunzel am Fuß der Brücke würde ausreichen, um ihn zu erkennen. Ohne Überraschung stellte er fest, dass sich sein Puls und sein Atem ein wenig beschleunigt hatten, und fast genoss er es. Bei Bühnenkünstlern nannte man das Lampenfieber.
Zwei Minuten später hatte er seinen Posten im sottoportego bezogen, und pünktlich um halb elf tauchte der Oberst auf – er hörte den militärischen Takt seiner Absätze, schon bevor sich Orlow im trü ben Licht der Ölfunzel zeigte. Er ließ ihm zehn Schritte Vorsprung, bevor er ihm folgte. Orlow überquerte die kleine Landzunge, die in den Canale della Misericordia hineinragte, doch anstatt geradeaus zum Rio della Sensa zu laufen, bog er nach rechts ab.
Am Ende der Fondamenta della Misericordia blieb er stehen und zog etwas aus der Tasche seines Gehrocks. Ein Streichholz leuchtete kurz in der Dunkelheit auf – na bitte, der Oberst gönnte sich noch eine Zigarette. Die letzte Zigarette – vielleicht in Vorfreude auf die Genüsse, die ihn in der Pensione Apollo erwarteten, oder vielleicht – der Oberst schien den Kopf in den Nacken gelegt zu haben – weil ihn der Mond und das unwahrscheinliche Sternengesprengsel über der nördlichen Lagune faszinierten: die Milchstraße, der Schwan, dieses unvollendete Kreuz, und Andromeda, das fliegende V mit der kleinen Staubflocke am zweiten Stern. War es denn, dachte er, wirklich so schlimm, was dem Oberst jetzt bevorstand? Er selbst jedenfalls hätte einen schnellen Tod einem qualvollen Sterben auf dem Schlachtfeld jederzeit vorgezogen.
Er setzte sich in Bewegung und näherte sich Orlow mit langsamen, leicht schlurfenden Schritten, die harmlos klangen und nach denen sich der Oberst nicht umdrehen würde. Dabei zog er den Lederriemen aus der Tasche, nahm den einen Holzpflock in die rechte, den anderen in die linke Hand und hielt beide Arme vor den Körper. Orlow stand immer noch hart an der Kaimauer, rauchte seine letzte Zigarette und bewegte sich nicht. Wunderbar. Wenn der Oberst sich weiterhin nicht rührte, könnte er ihn einen leichten Tod sterben lassen.
Zwei schnelle Schritte brachten ihn hinter Orlows Rücken, und vermutlich wäre sein Unternehmen wie ein Schweizer Uhrwerk abgelaufen, hätte Orlow nicht in diesem Moment seine Zigarette zum Mund geführt. Das lederne Band blieb an Orlows Ellenbogen hängen, und der Oberst wirbelte erstaunlich schnell herum. Einen Augenblick lang begegneten sich ihre Augen, und während er das Rasiermesser aus der Tasche zog, fragte er sich, ob Orlow ihn erkannte, aber im Grunde spielte es keine Rolle. Das Rasiermesser schoss in einem
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