Gondeln aus Glas
Ölskizze Piazettas neben dem Wassertor – zwei problemlos zu transportierende Gemälde, die gewiss nicht wenig wert waren. Aber vielleicht, dachte Tron, war es im Moment besser, erst mal die Fragen zu stellen, die jemand beantworten konnte.
Er sah Orlow an. «Warum haben die Casertas den Tizian nicht in Rom verkauft?»
Eine Frage, die der Oberst offenbar erwartet hatte und ohne Zögern beantwortete. «Die Casertas wollten nicht, dass dieser Verkauf bekannt wird.» Er drehte seinen Kopf zum Fenster und richtete ein grimmiges Lächeln zu den Wolken, die über der Dogana hinwegzogen. «Das legitimistische Rom ist ein Klatschnest», fuhr er fort. «Den meisten von uns steht inzwischen das Wasser bis zum Hals, aber niemand will es zugeben.»
«Steht auch den Casertas das Wasser bis zum Hals?» Oberst Orlow, fand Tron, hatte sich jedes Mal auffällig bedeckt gehalten, wenn die Sprache auf die Casertas kam.
Einen Augenblick lang wurde Orlows Gesicht verschlossen wie eine Auster. Dann lächelte er und sagte: «Bis zum Gürtel.»
«Und woher kannten Sie Signor Kostolany?»
«Ich hatte bereits vor einem halben Jahr ein paar Zeichnungen aus dem Besitz der Casertas an Signor Kostolany verkauft. Deshalb hatte Signora Caserta auch keine Bedenken, ihm den Tizian zur Prüfung zu überlassen.» Orlow drehte den Kopf und warf einen militärischen Blick auf eine Wolkenformation, die sich am Himmel über San Samuele gebildet hatte. Dann sah er Tron scharf an. «Was kann ich Signora Caserta sagen, wenn ich sie nachher spreche, Conte?»
Orlow hatte den schnarrenden Tonfall seiner Kommandostimme am Schluss des Satzes etwas gemildert, trotzdem klang seine Frage wie eine versteckte Drohung. Wahrscheinlich, dachte Tron, würde der Oberst jetzt gerne von ihm hören, dass er jeden verfügbaren Polizisten sofort auf die Suche nach dem verschwundenen Tizian ansetzte.
Er lächelte höflich. «Sagen Sie Signora Caserta, es gäbe eine Reihe von Spuren, denen wir nachgehen.»
Das war ein wenig übertrieben, denn die einzige Spur, die sie bislang hatten, war Valmarana, aber Orlow entspannte sich sichtlich.
«Signora Caserta setzt großes Vertrauen in Sie, Conte Tron», sagte der Oberst mit steifer Feierlichkeit. «Sie hat mir ausdrücklich aufgetragen, Ihnen dies mitzuteilen.» Er zupfte an der verwelkten Nelke in seinem Knopfloch und musterte einen mit Fässern beladenen Lastsegler, der zum Greifen nahe an den Fenstern des Palazzo da Lezze vorbeizog. «Es wäre sehr unangenehm für Signora Caserta», fuhr der Oberst fort, «wenn sie auf die Summe, die ihr der Verkauf des Gemäldes eingebracht hätte, verzichten müsste.»
Was nicht ganz auszuschließen war, dachte Tron.
Und auch wenn sie den Mörder Kostolanys stellen würden, bedeutete das noch lange nicht, dass sich der Tizian wieder anfand. Er sah Orlow an. «Wie lange werden Sie in Venedig bleiben?»
Einen Moment lang starrte Orlow auf den Grund seines Zylinderhutes, als würde er dort eine passende Antwort auf die Frage finden. Als er sprach, klang seine Stimme militärisch knapp. «Wir bleiben so lange, bis der Tizian wieder aufgetaucht ist, Commissario.»
«Ich traue Orlow nicht, Commissario», sagte Sergente Bossi eine halbe Stunde später. Sie hatten den Oberst am Regina e Gran Canal abgesetzt, und jetzt steuerte die Polizeigondel den Molo an, wo Bossi aussteigen würde, um sich auf die Wache an der Piazza zu begeben.
Das satte Della-Robbia-Blau des Himmels über der Lagune hatte sich in ein wässriges Hellblau verwandelt, und es war so heiß geworden, dass Tron seinen Zylinderhut abnahm und Bossi durch ein knappes Nicken die Erlaubnis erteilte, seinen Polizeihelm ebenfalls abzusetzen. Scharen von anderen Gondeln kamen ihnen entgegen und kreuzten ihre Bahn, fast jede besetzt mit Fremden. Die Damen hatten Sonnenschirme aufgespannt, die Herren trugen modische Strohhüte und Gehröcke aus hellen Leinenstoffen. Viele Gondeln hatten einen singenden Mandolinenspieler an Bord. Diese affige Unsitte, ursprünglich die Idee eines englischen Reisebüros, hatte sich seit zwei Jahren wie eine Seuche auf den venezianischen Gondeln ausgebreitet, und für Tron passte es ins Bild, dass sie vorzugsweise neapolitanische Volkslieder zum Besten gaben. Einige dieser Gondeln gerieten durch die Bugwelle eines mit Holz beladenen griechischen Raddampfers, der aus dem Giudecca-Kanal kam, ins Schwanken, und Tron sah mit Genugtuung, wie einer der singenden Mandolinenspieler fast ins Wasser
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