Gondeln aus Glas
die Frau registrierte, die in seltsam verdrehter Position direkt vor dem Erard lag.
Tron setzte sich in Bewegung, und noch bevor er den leblosen Körper erreicht hatte, der zusammengekrümmt vor dem aufgeklappten Flügel lag, wusste er, dass Konstancja Potocki tot war und dass sie keines natürlichen Todes gestorben war. Ihre rechte Hand, deren Finger in diesem Leben keine Taste mehr berühren würden, war um einen Band Mozartsonaten geklammert – vielleicht hatte sie die Sonaten in einer letzten, verzweifelten Anstrengung als Schild benutzt, um sich gegen ihren Mörder zu wehren.
Ein paar einzelne Notenbögen waren von der Ablage des Erards herabgefallen und bedeckten ihren Körper wie riesige Blütenblätter. Ihr rotes Haar, das sie immer hochgesteckt trug, hatte sich geöffnet und lag wie eine Kaskade aus glänzendem Kupfer auf ihrem Rücken. Tron fand, dass Konstancja Potocki sonderbar jung aussah, so als wäre im Todeskampf die Uhr ihres Lebens in rasender Geschwindigkeit rückwärts gelaufen. Ihre Augen waren weit aufgerissen, und ihr geöffneter Mund – der Mund eines kleinen Mädchens – wirkte, als versuchte er, Schreie zu artikulieren, die viel zu groß waren, um sich durch ihre Stimmbänder zu quetschen.
Als Tron in die Knie ging und sich über sie beugte – bemüht, nichts zu verändern, bevor Bossi die Tatortfotos aufgenommen hätte –, sah er, auf welche Weise sie gestorben war: Ein bläulich verfärbter, tief eingeschnittener Ring zog sich um ihren Hals wie eine obszöne Kette.
Er richtete sich auf und überlegte. Wie viel Zeit war zwischen dem Ende der Mazurka und seinem Betreten der sala vergangen? Er schätzte, dass es sich um zwei, höchstens drei Minuten gehandelt haben konnte. Der Mörder konnte nur über die Treppe entkommen sein, die nach oben führte.
Oder war er womöglich noch hier im Raum?
Tron drehte nervös seinen Kopf über die Schulter, aber in der spärlich möblierten sala gab es nur das neue Übungsklavier der Potocki, daneben ein billiges, auf settecento gequältes Sofa, ein halbes Dutzend Sessel und eine Kredenz, auf der sich Noten stapelten.
Tron erhob sich, durchquerte mit schnellen Schritten die sala und trat wieder in das Vestibül.
Dann riss er den Zug der Dienerklingel, die neben der Tür angebracht war, nach unten – so heftig, dass der Porzellangriff abriss und auf dem Terrazzofußboden in tausend Stücke zerbrach. Nicht dass es darauf noch angekommen wäre.
24
Sie hatten den Dachboden des Palazzo Mocenigo, einen riesigen, in hölzerne Verschläge aufgeteilten Raum, gründlich abgesucht, aber den Mörder nicht entdeckt. Da Tron keine Waffe trug, hatte er das nicht bedauert, obwohl er Signora Kinsky gegenü ber, der jungen Haushälterin der Potockis, das Gegenteil behauptet hatte. Tron hatte eines der beiden Hausmädchen zur Questura geschickt, um Bossi zu holen, das andere war auf dem Weg zu Dr. Lionardo.
Er schätzte, dass beide in einer knappen Stunde im Palazzo Mocenigo eintreffen würden. Jetzt standen Tron und Anna Kinsky auf dem kleinen Flur des Dachgeschosses, direkt vor der Kammer, die Anna Kinsky bewohnte, und durch die geöffnete Tür hindurch konnte er ihr Bett mit dem Kruzifix darüber und auf dem Nachttisch die Bibel sehen. Die Haushälterin der Potockis hatte erstaunlich gefasst auf den Tod von Konstancja Potocki reagiert. Tron fragte sich, ob sie ihre Fassung aus ihrem Glauben bezog.
«Es waren meine Schritte, die Sie vorhin auf der Treppe gehört haben, Conte Commissario», wiederholte Anna Kinsky mit leiser Stimme. Sie sprach Italienisch mit dem starken Akzent von Leuten, die nach wie vor in ihrer eigenen Sprache denken, zählen, träumen.
Wie jedes Mal, wenn sie eine von Trons Fragen beantwortete, schlug sie schamhaft die Augen nieder, so als hätte sie das Bedürfnis, sich für alles, was mit ihrer Person zusammenhing, bereits im Voraus zu entschuldigen: für die Antwort, die sie gerade gab, für ihr polnisches Italienisch, für ihre dünne, leicht piepsige Stimme oder auch dafür, wie sie aussah – für ihr ganzes trauriges Dasein.
Dabei, fand Tron, sah sie gar nicht einmal schlecht aus: weit auseinander stehende Augen, lange, dichte Wimpern und eine leicht gebräunte, makellose Haut. Er schätzte sie auf höchstens fünfundzwanzig, und nur der Himmel mochte wissen, warum sie alles dafür zu tun schien, wie eine alte Jungfer zu wirken. Sie trug ein dunkelgraues, kastenförmig geschnittenes Kleid aus billigem Wollstoff, das
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