GONE Lügen
lachte. »Zur Abwechslung habe ich gerade genug Helfer.«
»Das meine ich nicht«, winkte Nerezza ungeduldig ab. »Die Prophetin möchte ein Kind adoptieren, das noch nicht lange hier ist.«
»Verzeihung?«
»Sie heißt Jill«, sagte Orsay. »Ich hatte einen Trau m …«, fügte sie hinzu, hörte aber gleich wieder zu reden auf, als hätte sie den Faden verloren, und runzelte die Stirn.
»Jill? Sie ist erst seit ein paar Stunden hier. Woher wisst ihr überhaupt, dass sie bei mir ist?«
»Zils Leute haben sie gezwungen, ihr Haus zu verlassen, weil sie ein Freak ist«, erklärte Nerezza. »Ihr Bruder ist zu schwach, um sie zu beschützen. Und für die Kita ist sie zu alt. Das weißt du, Mary.«
»Ja«, antwortete Mary. »Sie ist eindeutig zu alt.«
»Die Prophetin würde sie gerne bei sich aufnehmen.«
Mary warf Orsay einen fragenden Blick zu. Es dauerte jedoch ein paar Sekunden, bis Orsay bewusst wurde, dass sie etwas sagen sollte. »Ja, sehr gerne sogar.«
Mary spürte intuitiv, dass an der Sache etwas faul war. Schwer zu sagen, was mit Orsay los war, aber Nerezza war eindeutig seltsam und irgendwie aggressiv.
Tatsache war, dass die Kita keine größeren Kinder aufnahm. Konnte sie gar nicht. Aber es war auch nicht das erste Mal, dass Mary einem älteren Kind vorübergehend Schutz bot, bis es woanders unterkam.
Francis hatte für Orsay und Nerezza gebürgt. Wahrscheinlich hatte er den beiden von Jill erzählt, während sie geschlafen hatte.
Mary fragte sich, warum Francis es so eilig gehabt hatte und was Nerezza mit »Wiedergeburtstag« wohl meinte.
»Okay«, sagte sie. »Wenn Jill einverstanden ist, kann sie bei dir wohnen.«
Orsay lächelte und in Nerezzas Augen blitzte Zufriedenheit auf.
Justin hatte ins Bett gemacht. Wie ein Baby. Er war aber kein Baby, er war fünf Jahre alt.
Er erzählte es Mary, die meinte, das sei nicht schlimm und passiere eben manchmal. Aber früher war es ihm nie passiert. Nicht, solange er seine echte Mommy gehabt hatte.
Er weinte, als er ihr davon erzählte. Außerdem war es ihm peinlich, weil er den Eindruck hatte, Mary würde dabei schlecht werden. Sie war auch nicht mehr so nett wie früher. Normalerweise ging er damit zu Francis. Es geschah auch nicht jede Nacht, weil er sich angewöhnt hatte, tagsüber möglichst wenig Wasser zu trinken. Aber gestern Abend hatte er vergessen, dass er nichts trinken durfte.
Mit fünf war er älter als die meisten in der Kita. Trotzdem machte er noch ins Bett.
Er wusste, wie er zu seinem alten Haus kam, seinem richtigen Zuhause mit seinem alten Bett. Das Bett, in das er nie gepinkelt hatte. Jetzt schlief er auf einer blöden Matratze auf dem Fußboden, über die die anderen ständig drüberstiegen. Wahrscheinlich war das der Grund, warum es so oft passierte.
Sein altes Haus war auch gar nicht weit weg. Er war schon ein paarmal dort gewesen. Nur um es zu sehen und sich zu vergewissern, dass es echt war. Manchmal zweifelte er daran.
Einmal war er da gewesen, um nachzusehen, ob seine Mommy vielleicht zu Hause war. Doch als er die Tür geöffnet hatte, hatte er sich nicht hineingetraut und war zu Mary zurückgelaufen.
Aber inzwischen war er größer. Damals war er erst viereinhalb gewesen, jetzt war er schon fünf. Jetzt würde er sich wahrscheinlich nicht mehr fürchten.
Sechs
57 Stunden, 17 Minuten
Tageslicht, hell und klar.
Sam und Astrid schlenderten über den kleinen Markt neben der Schule. Sie kamen am Fischstand vorbei, der bis auf ein paar Tintenfische, ein knappes Dutzend Venusmuscheln und einen kleinen, besonders ekelhaft aussehenden Fisch bereits leer gekauft war.
Der Fischstand bestand aus einem langen Klapptisch aus der Schulmensa, auf dem mehrere graue Plastikwannen aufgereiht waren. An der Vorderkante des Tisches baumelte ein Schild aus Pappkarton, auf dem Quinns frische Meeresfrüchte und darunter in kleineren Buchstaben Ein AlberCo Unternehmen stand.
Astrid musterte Sam skeptisch. »Erzählst du mir, warum du heute Morgen so dreckig warst?«
»Ich bin gestolpert und hingefallen. Als Jill plötzlich vor mir aufgetaucht ist, bin ich vor Schreck über meine eigenen Füße geflogen.« Das entsprach zumindest teilweise der Wahrheit. Die ganze Wahrheit würde er ihr erzählen, sobald er sich selbst ein Bild gemacht hatte. Die Erlebnisse der letzten Nacht hatten ihn so beunruhigt, dass er erst mal über alles nachdenken musste. Und dann wollte er sich einen Plan zurechtlegen. Es war sowieso besser, den Stadtrat mit
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