GONE Lügen
gehalten, doch inzwischen musste er ihm Recht geben. Es war eindeutig Alberts System zu verdanken, dass sie genug zu essen hatten, um zu überleben, und jetzt viel mehr Leute arbeiteten, die davor keinen Finger krumm gemacht hatten. Seit sie bezahlt wurden, waren sie bereit, auf die Felder zu gehen und die Ernte einzubringen. Sie wurden mit Bertos bezahlt und gaben Bertos aus und vorübergehend war die drohende Hungersnot zu einer bösen Erinnerung verblasst.
Das Mädchen mit den Tarotkarten machte kein Geschäft. Dafür hatte niemand Geld. Ein Junge spielte auf der Gitarre und wurde von seiner kleinen Schwester auf einem professionellen Schlagzeug begleitet, das sie aus einem der Häuser geklaut haben mussten. Gut waren sie nicht, aber seit es in Perdido Beach keinen elektrischen Strom mehr gab und die MP3-Player und Stereoanlagen zu nichts mehr zu gebrauchen waren, seit die PCs und die DVD-Player ungenutzt verstaubten, war jede Art von Unterhaltung willkommen, selbst wenn sie noch so erbärmlich klang.
Und tatsächlich legte jetzt ein Mädchen eine viertel Melone auf den Almosenteller der beiden Musiker. Sie hörten sofort auf zu spielen, brachen die Melone in zwei Hälften und verschlangen sie.
Sam wusste, dass es noch einen zweiten Markt ga b – außer Sichtweite, aber leicht zu finden, wenn man interessiert war. Dort wurde mit Alkohol und Gras gedealt und noch ein paar anderen verbotenen Waren. Er hatte ein paar halbherzige Versuche unternommen, den Schwarzmarkt zu verbieten, war aber nicht weit damit gekommen. Außerdem gab es Dringenderes zu tun.
»Neue Graffiti«, bemerkte Astrid. Sie blickte zur Wand hinter dem Fleischstand, wo sich Zils Hasstruppe mit ihrem Logo für die Human Crew verewigt hatte, einem rot-schwarzen, aus den Buchstaben H und C gebildeten Tag.
»Ja, sie sind in der ganzen Stadt.« Sam wusste, dass er nicht weitersprechen sollte, tat es aber dennoch. »Wenn ich nicht an der Kette läge, würde ich in Zils sogenannte Festung gehen und dafür sorgen, dass das aufhört.«
»Was meinst du? Ihn töten?«
»Nein, aber seinen Arsch ins Rathaus befördern und ihn dort so lange einsperren, bis er bereit ist, erwachsen zu werden.«
»Mit anderen Worten, ihn ins Gefängnis stecken. Weil du das beschlossen hast. Und ihn dort so lange einsperren, wie du es für richtig hältst«, entgegnete Astrid. »Für jemanden, der nie das Kommando haben wollte, bist du ganz schön scharf darauf, zum Diktator zu werden.«
Sam seufzte. »Okay, egal. Ich will mich nicht streiten.«
Astrid wechselte das Thema. »Wie geht es der Kleinen von letzter Nacht?«
»Mary hat sie aufgenommen.« Er zögerte kurz und warf einen Blick über die Schulter, um sich zu vergewissern, dass niemand lauschte. »Mary hat sie gebeten, ihnen was vorzusingen. Sie sagt, wenn Jill singt, scheint die Welt stillzustehen. Keiner spricht mehr, alle stehen wie angewurzelt da und hören zu. Als würde ein Engel singen.«
»Ein Engel?« Astrid klang skeptisch.
»Ich dachte, du glaubst an Engel.«
»Tu ich auch, ich glaube nur nicht, dass Jill ein Engel ist.« Sie seufzte. »Eher eine Sirene.«
Sam starrte sie begriffsstutzig an.
»Nein, keine Sirene wie auf einem Polizeiauto. Ich spreche von Odysseus. Den Sirenen, denen kein Mann widerstehen konnte, sobald sie zu singen anfingen.«
»Ich kenne die Geschichte.«
»Ach ja?«
»Ja. Hab mal eine Parodie bei den Simpsons gesehen.«
Astrid stöhnte auf. »Warum bin ich eigentlich mit dir zusammen?«
»Weil ich so unwiderstehlich bin?«
»Du bist ganz annehmbar«, neckte Astrid ihn.
»Jedenfalls ein echt scharfer Diktator.«
»Ich kann mich nicht erinnern, ›echt scharf‹ gesagt zu haben.«
Sam lächelte. »Musstest du auch nicht. Ich seh’s in deinen Augen.«
Sie küssten sich. Kein leidenschaftlicher Kuss, aber angenehm. Irgendjemand johlte spöttisch, ein anderer rief: »Hey, sucht euch eine Wohnung!«
Sam und Astrid beachteten sie nicht. Es war ihnen bewusst, dass sie das erste Paar der FAYZ waren und ihre Beziehung den Kids ein Gefühl von Sicherheit vermittelte. Als würden sie zusehen, wie sich Mom und Dad küssten: irgendwie eklig, aber zugleich auch beruhigend.
»Und was machen wir jetzt mit der Sirene?«, griff Astrid den Faden wieder auf. »Sie ist zu groß, um bei Mary zu bleiben.«
»Orsay hat sie zu sich genommen.« Sam beobachtete, ob Orsays Erwähnung bei Astrid eine Reaktion auslöste. Nein. Astrid wusste offensichtlich noch nicht, was Orsay neuerdings
Weitere Kostenlose Bücher