GONE Lügen
trieb.
»Entschuldigt bitte. Sam?«, sagte eine Stimme hinter ihnen.
Sam wandte den Kopf und erblickte Francis. »Was gibt’s, Francis?«
Francis zuckte sichtlich verlegen die Achseln. Jetzt streckte er die Hand aus. Sam zögerte, doch dann nahm er sie und schüttelte sie.
»Ich wollte mich bei dir bedanken«, sagte Francis.
»Oh. Ä h … cool.«
»Du sollst auch nicht glauben, dass es deine Schuld ist, okay? Oder mir böse sein. Ich hab’s versuch t …«
»Wovon redest du?«
»Ich hab Geburtstag«, erklärte Francis. »Der große Fünfzehnte.«
Sam spürte eine Schweißperle über seinen Rücken laufen. »Du weißt, was du tun musst, oder? Ich meine, du hast die Anleitung gelesen?«
»Ja, ich hab sie gelesen«, erwiderte Francis, doch der Klang seiner Stimme verriet ihn.
Sam packte ihn am Arm. »Francis, tu’s nicht!«
»Es wird alles gut gehen.«
»Nein«, mischte sich jetzt Astrid ein, »ganz sicher nicht.«
Francis zog die Schultern hoch, dann grinste er scheu. »Meine Mom braucht mich. Sie und mein Dad haben sich gerade getrennt. Außerdem fehlt sie mir.«
»Was soll das heißen, sie haben sich gerade getrennt?«
»Sie denken schon lange darüber nach. Aber letzte Woche ist mein Dad abgehauen. Hat sie allein gelassen, deshal b …«
»Francis, wovon redest du?«, fragte Astrid scharf. »Wir sind seit sieben Monaten in der FAYZ. Du kannst unmöglich wissen, was bei deinen Eltern los ist.«
»Die Prophetin hat es mir gesagt.«
»Die was?« Astrid schnappte nach Luft. »Francis, bist du betrunken?«
Sam fühlte sich wie versteinert, außerstande zu reagieren.
»Die Prophetin hat es mir erzählt. Sie sa h … sie weiß es und sie hat es mir erzähl t …« Er wurde immer unruhiger. »Hör mal, ich will nur, dass ihr nicht sauer auf mich seid.«
»Dann hör auf, dich wie ein Idiot zu benehmen«, sagte Sam, der sich endlich wieder gefasst hatte.
»Meine Mom braucht mich«, beharrte Francis. »Mehr als ihr. Ich muss zu ihr.«
»Woher willst du wissen, dass du zu deiner Mutter verpuffst?«
»Es gibt eine Tür.« Während er sprach, legte sich ein Schleier über seine Augen. Sein Blick war nach innen gerichtet, als würde er in den eigenen Kopf schauen, und seine Worte klangen wie auswendig gelernt. »Eine Tür, ein Weg ins Glück.«
»Francis«, sagte Astrid, »ich weiß nicht, wer dir so etwas erzählt, aber es ist nicht wahr. Niemand weiß, was passiert, wenn du aussteigst.«
»Sie weiß es«, sagte Francis stur. »Sie hat mir alles erklärt.«
»Francis, tu’s nicht«, drängte Sam noch einmal. »Ich weiß über Orsay Bescheid. Ich weiß, was da läuft, okay? Mag sein, dass sie daran glaubt, aber deshalb darfst du es nicht auch glauben. Es ist zu riskant.«
Er spürte Astrids Blick auf sich ruhen, weigerte sich aber, die unausgesprochene Frage zu beantworten.
»Sam, du bist der Boss«, sagte Francis mit einem schüchternen Lächeln. »Aber darüber kannst nicht einmal du bestimmen.«
Francis drehte sich um und entfernte sich mit raschen Schritten. Nach etwa fünf Metern blieb er jedoch abrupt stehen, denn Mary Terrafino kam auf ihn zugerannt.
Sie winkte mit ihren abgemagerten Armen und schrie: »Francis! Nicht!«
Francis blickte auf seine Uhr. Er strahlte.
Als Mary bei ihm war, packte sie ihn mit beiden Händen und schrie: »Du kannst diese Kinder nicht verlassen! Wag es ja nicht! Sie haben schon so viel verloren. Sie lieben dich.«
Francis nahm seine Uhr ab und hielt sie ihr hin. »Da, für dich. Mehr hab ich nicht.«
»Francis, nicht!«
Aber ihre Hände griffen ins Leere, ihr Schrei verhallte in der Luft.
Die Uhr lag im Gras.
Francis war weg.
Sieben
56 Stunden, 30 Minuten
»Was hast du uns sonst noch alles verschwiegen, Sam?«
Astrid hatte sofort eine Ratssitzung einberufen. Sie hatte ihn nicht einmal angeschrien, sondern nur mit einem eiskalten Blick festgenagelt und gesagt: »Wir brauchen eine Sitzung, jetzt gleich.«
Und nun saßen sie alle im ehemaligen Konferenzsaal des Rathauses, einem düsteren Raum mit nur einem Fenster, das noch dazu im Schatten lag. In der Mitte stand ein Tisch aus massivem Holz, umgeben von bequemen Polstersesseln, und an den Wänden prangten große gerahmte Fotos, auf denen die früheren Bürgermeister von Perdido Beach abgebildet waren.
Sam kam sich in diesem Raum immer wie ein Idiot vor. Er verschwand beinahe in dem übergroßen Sessel an einem Ende des Tisches, Astrid ihm gegenüber im anderen. Ihre Hände lagen auf dem Tisch, die
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