GONE Lügen
einfach nur verrückt.«
Nerezza nahm ihre Hand. Die Berührung fühlte sich stark und kühl an und sandte einen Schauer über Orsays Arm.
»Sie erzählen Lügen über dich, Prophetin. Du darfst nicht an dir selbst zweifeln, weil sie dich angreifen.«
»Wovon redest du?«
»Sie fürchten dich. Sie fürchten deine Wahrheit. Sie verbreiten Lügen über dich und behaupten, du seist eine falsche Prophetin.«
»Aber ic h … wa s … ic h …«
Nerezza legte einen Finger auf Orsays Mund. »Nicht. Du darfst nicht zweifeln. Du musst daran glauben. Du musst die Prophetin sein. Sonst verfolgen dich ihre Lügen.«
Orsay saß so regungslos da wie das Kaninchen vor der Schlange.
»Das Schicksal der falschen Propheten ist der Tod«, fuhr Nerezza fort. »Aber du bist die echte Prophetin. Und dein Glaube wird dich schützen. Glaube, und es kann dir nichts geschehen. Überzeuge andere von deinem Glauben, und du wirst weiterleben.«
Orsay war zu Tode erschrocken. Wovon redete Nerezza? Was sagte sie da? Wer waren die Leute, die Lügen über sie verbreiteten? Und wer sollte sie bedrohen? Sie tat doch nichts Unrechtes. Oder?
Nerezza rief mit lauter und ungeduldiger Stimme: »Jill! Jill, komm her!«
Ein paar Sekunden später ging die Tür auf und das Mädchen kam herein. Es trug immer noch seine Puppe bei sich, klammerte sich an sie wie an einen Rettungsanker.
»Sing für die Prophetin!«, befahl Nerezza.
»Welches Lied soll ich singen?«
»Irgendeins«, antwortete Nerezza.
Also sang sie Sunny Days.
Und Orsay hörte auf zu denken.
Zwölf
45 Stunden, 36 Minuten
Hunter war zu einem Nachtwesen geworden. Gezwungenermaßen. Tagsüber blieben die Tiere in ihrem Versteck. Sie kamen nur nachts heraus. Feldhasen, Waschbären, Mäuse und die größte Beute von allen: die Hirsche. Auch die Kojoten jagten in der Nacht. Von ihnen hatte sich Hunter vieles abgeschaut.
Tagsüber machte er Jagd auf Eichhörnchen und Vögel. Aber die Nacht war die Zeit, in der er seinem Namen gerecht wurde.
Sein Revier war groß. Es reichte vom Stadtrand, wo sich Hirsche und Waschbären bis in die Gärten der Menschen wagten, über die trockenen Ebenen der Wüste, in denen er Schlangen, Mäuse und andere Nager aufstöberte, bis zu den Steilhängen an der Küste und den Nistplätzen der Möwen und Seeschwalben. Einmal hatte er sogar einen verirrten Seelöwen erbeutet.
Er war sich seiner Verantwortung bewusst. Er war Hunter, der Jäger.
Er kannte die Bedeutung dieses Wortes, konnte es aber nicht mehr buchstabieren. Sein Kopf funktionierte nicht mehr so wie früher. Das wusste er. Er spürte es. Dunkel erinnerte er sich an ein anderes Leben und daran, dass er zur Schule gegangen war und die Hand gehoben hatte, weil er die Antwort auf eine besonders schwierige Frage gewusst hatte.
Jetzt würden ihm diese Antworten nicht mehr einfallen. Die Antworten, die er heute hatte, ließen sich nicht in Worte fassen. Dennoch gab es Dinge, über die er Bescheid wusste: zum Beispiel, wie man erkannte, ob ein Hase die Flucht ergreifen oder stillhalten würde, oder ob ein Hirsch seine Witterung aufnehmen würde oder nicht. Sobald er diese Dinge jedoch erklären wollte, kamen stets die falschen Worte heraus.
Mit seinem Gesicht stimmte etwas nicht. Die eine Hälfte war vollkommen gefühllos, als wäre sie bloß ein tauber Hautlappen. Und manchmal schien diese Taubheit bis in sein Hirn zu reichen. Doch seine seltsame Kraft, die Fähigkeit, tödliche Hitzewellen abzufeuern, war ihm geblieben.
Er konnte also weder richtig sprechen noch einen klaren Gedanken fassen, dafür aber jagen. Mit der Zeit hatte er gelernt, sich lautlos zu bewegen und darauf zu achten, dass ihm auf der Jagd die Brise ins Gesicht blies. Er wusste, dass die Hirsche in der Nacht zu den Kohlfeldern aufbrachen, von ihnen immer wieder angezogen wurden, obwohl dort die Killerwürmer in der Erde hausten und alles töteten, was einen Fuß auf ihr Territorium setzte.
In der Hinsicht waren Hirsche nicht gerade clever.
Hunter strich wie ein Schatten durch den Wald. Er setzte die Füße auf den Ballen auf, um durch die Sohlen seiner Stiefel morsche Zweige oder lose Steine zu spüren, und lief so lautlos wie ein Kojote.
Die Hirschkuh war ihrem Jungen ein Stück voraus. Sie bewegte sich von den Dornen unbehelligt durch das Gestrüpp, nur darauf bedacht, ihrem Geruchssinn zu folgen und ihr Junges zu der Grünfläche zu bringen, die jetzt nicht mehr weit war.
Hunter pirschte sich näher und näher an sie
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