GONE Lügen
kennt dafür jeder.«
»Ich wollte mich gerade auf die Suche nach Orsay machen.«
»Warum?«
»Um zu sehen, wie es Jill geht.«
»Das ist nicht der wahre Grund«, erwiderte Nerezza mit dem Anflug eines Lächelns.
Marys Gesichtsausdruck verhärtete sich. »Okay, stimmt. Der wahre Grund ist Francis. Ich weiß nicht, was Orsay ihm erzählt hat, aber ich kann mir nicht vorstellen, dass Orsay das wollte. Ihr müsst dafür sorgen, dass das aufhört. So was darf nie wieder vorkommen.«
»Dass was aufhört?«
»Francis ist ausgestiegen. Er hat sich umgebracht!«
Nerezzas Augenbrauen wanderten nach oben. »Aber nein, Mary. Er ist zu seiner Mutter gegangen.«
»Das ist Blödsinn! Niemand weiß, was passiert, wenn man aussteigt.«
Überraschend legte Nerezza ihre Hand auf Marys Arm. Mary war sich nicht sicher, ob ihr das recht war, aber sie ließ sie gewähren.
»Mary, die Prophetin weiß es. Sie sieht es. Jede Nacht.«
»Ach ja? Ich hab gehört, dass sie lügt und das alles nur erfindet.«
»Ich weiß«, erwiderte Nerezza in einem bedauernden Ton. »Astrid behauptet, die Prophetin lügt. Aber du musst wissen, dass Astrid sehr religiös ist und auch sehr stolz. Sie glaubt, alles zu wissen. Sie erträgt den Gedanken nicht, dass ein anderer auserwählt sein könnte, uns die Wahrheit zu verkünden.«
»Ich kenne Astrid schon sehr lan ge …« Mary war drauf und dran, Nerezza zu widersprechen. Aber das Mädchen hatte nicht ganz Unrecht. Astrid war stolz und ließ sich von niemandem etwas sagen.
»Hör auf die Worte der Prophetin«, sagte Nerezza leise, als vertraute sie ihr ein Geheimnis an. »Die Prophetin hat eine Zeit des Leidens vorhergesehen. Sie wird schon sehr bald eintreten. Und dann, Mary, wenn der Dämon und der Engel aufeinandertreffen, gehen wir alle in den roten Sonnenuntergang und werden frei sein.«
Mary hielt gebannt den Atem an. Eine innere Stimme rief ihr warnend zu, dass das vollkommener Schwachsinn war, aber sie achtete nicht darauf. Nerezza sprach im Brustton der Überzeugung, ihre Stimme hatte eine hypnotische Wirkung.
»Komm heute Nacht, Mary. Noch vor dem Morgengrauen. Die Prophetin wird mit dir sprechen. Und dann wirst auch du die Wahrheit erkennen.« Sie lächelte und verschränkte die Arme vor dem Bauch. »Sie ist wie du, Mary. Stark und voller Güte und Liebe.«
Sechzehn
16 Stunden, 42 Minuten
Orsay kletterte zur gewohnten Stunde auf den Felsen. Sie hatte es so oft getan, dass sie intuitiv wusste, wo sie ihre Füße hinsetzen musste und wo sie mit den Händen Halt fand. An bestimmten Stellen war der Stein besonders glitschig und manchmal hatte sie Angst, ins Wasser zu fallen.
Sie fragte sich, ob sie ertrinken würde. Das Wasser war hier nicht besonders tief, aber angenommen, sie schlug mit dem Kopf auf– würde sie dann bewusstlos liegen bleiben und einfach sterben?
Die kleine Jill, die ein frisches Kleid trug und ihre Puppe nicht mehr ganz so verzweifelt an sich drückte, kletterte ihr hinterher. Sie stellte sich dabei erstaunlich geschickt an.
Nerezza war direkt hinter ihnen und passte auf jeden ihrer Schritte auf.
»Sei vorsichtig, Prophetin«, bat sie. »Und du auch, Jill.«
Nerezza war eine Schönheit, viel hübscher als Orsay. Orsay war bleich und mager, während Nerezza kräftig und kerngesund aussah. Sie hatte einen makellosen hellen Teint, glänzende schwarze Haare und zartgrüne Augen. Manchmal meinte Orsay, ihre Augen in der Finsternis leuchten zu sehen.
Am Fuß des Felsens hatte sich bereits eine kleine Gruppe versammelt. Nerezza wandte sich zu ihnen um und rief: »Der Rat verbreitet Lügen, weil ihr die Wahrheit nicht erfahren sollt!«
Die Leute blickten zu ihr hoch, die Gesichter voller Erwartung und dennoch angespannt. Sie wollten daran glauben, dass Orsay eine echte Prophetin war. Aber vor Kurzem hatten sie Dinge gehör t …
»Warum sollen wir sie nicht erfahren?«, fragte jemand.
»Weil die Mächtigen ihre Macht nicht verlieren wollen«, antwortete Nerezza in einem überzeugten, höhnischen Tonfall, der Wirkung zeigte. Die Kids nickten und versuchten, Nerezzas coole und wissende Miene aufzusetzen.
Orsay konnte sich kaum noch daran erinnern, wie ihr Leben ausgesehen hatte, bevor Nerezza ihre Freundin und Beschützerin geworden war. Davor war sie ihr nie aufgefallen, was seltsam war, denn sie gehörte ja nun wirklich nicht zu der Sorte Mädchen, die man übersah.
Andererseits war Orsay selbst noch nicht lange in der Stadt. Sie hatte mit ihrem Vater im
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