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GONE Lügen

GONE Lügen

Titel: GONE Lügen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Grant
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die Wirkung war immer gleich überwältigend.
    »Jill«, sagte Nerezza, »mach dich bereit.« Dann wandte sie sich mit lauter Stimme an die Versammelten: »Hört zu! Wir haben uns heute etwas Besonderes für euch ausgedacht. Inspiriert von unserer Prophetin wird Jill für euch singen. Es wird euch gefallen.«
    Jill sang die ersten Zeilen eines Kinderlieds, das Orsay nicht kannte, weil ihre eigene Mutter nie für sie gesungen hatte.
    »Hush-a-bye, don’t cry,
go to sleepy you little baby…«
    Orsay kam es vor, als würde sich die Welt um sie herum auflösen und sie wie eine weiche Decke einhüllen.
    »When you awake, you shall have cake
And all the pretty little horses…«
    Orsay sah die Pferdchen vor sich, die schwarzen und die kastanienbraunen, die fleckigen und die grauen. Sie tanzten in ihrer Fantasie und zeigten ihr ein Leben und eine Welt, die sie nie gekannt hatte, eine Mutter, die nie gesunge n …
    »Hush-a-bye…«
    Jill verstummte. Orsay blinzelte wie eine plötzlich erwachende Schlafwandlerin. Sie sah die Kinder, die jetzt so dicht beieinanderstanden, dass sie eins zu werden schienen. Sie waren ihr noch näher gekommen, drängten sich an den Felsen und an Jill heran.
    Ihre Blicke ruhten aber weder auf Jill noch auf Orsay, sondern auf dem himmlischen Sonnenuntergang und den Gesichtern ihrer Mütter.
    »Jetzt«, flüsterte Nerezza Orsay zu.
    »Ja«, hauchte Orsay.
    Sie legte eine Handfläche auf die Barriere. Wie immer stockte ihr bei dem Stromschlag der Atem und sie musste ihre ganze Willenskraft aufbringen, um ihre Hand nicht zurückzuziehen. Der Schmerz tobte in ihren Fingern und schoss wie eine glühende Nadel den Arm hinauf.
    Orsay schloss die Augen.
    »Es is t … is t … ist Mary hier?«
    Jemand sog scharf die Luft ein.
    Orsay öffnete ihre von Tränen verhangenen Augen und erblickte Mary in einer der letzten Reihen. Die arme Mary, so überlastet. So schrecklich abgemagert.
    »Meinst du mich?«, fragte Mary.
    Orsay schloss die Augen. »Deine Mutter träumt von dir.« Bilder stürmten auf sie ein, sie waren tröstend und verstörend, aber auch wohltuend, weil sie vom Schmerz ablenkten.
    »Mary, deine Mutter vermisst dich. Sie träumt von einer Zeit, als du noch kleiner warst und dich furchtbar geärgert hast, weil dein Bruder ein Weihnachtsgeschenk bekam, das du haben wolltest.«
    »Das Skateboard«, flüsterte Mary.
    »Deine Mutter träumt, dass du bald zu ihr kommst. Du hast ja demnächst Geburtstag. Du bist so groß geworden. Deine Mutter sagt, du hast genug getan, Mary. Andere werden die Arbeit übernehmen.«
    »Ich kann nicht.« Marys Stimme klang gequält. »Ich kann die Kinder nicht im Stich lassen.«
    »Dein Geburtstag fällt mit dem Muttertag zusammen«, wisperte Orsay. Sie fand ihre eigenen Worte seltsam.
    »Das stimmt«, staunte Mary. »Wohe r …?«
    »An diesem Tag wirst du deine Kinder befreien, damit du selbst wieder ein Kind sein kannst.«
    »Ich kann sie nicht zurücklassen.«
    »Das sollst du auch nicht. Sobald die Sonne untergeht, nimmst du sie mit in die Freiheit. Sobald der Himmel rot ist und die Sonne untergeht.«
    Sanjit hatte den Abend vor dem Fernseher zugebracht und sich einen Film angesehen, in dem sein Adoptivvater die Hauptrolle spielte. Er kannte ihn längst. Sie hatten jeden einzelnen Film gesehen, in dem Todd Chance mitgespielt hatte, und so gut wie jeden mit Jennifer Brattle.
    An diesem hier interessierte ihn vor allem eine zwölfminütige Actionszene, in der ein Schauspieler, vielleicht sogar ein echter Pilot, einen Hubschrauber flog und gleichzeitig versuchte, mit der Maschinenpistole einen Typ aus der Luft abzuknallen. Der Typ, gespielt von Todd Chance, sprang währenddessen auf einem dahinrasenden Güterzug von Waggon zu Waggon.
    Sanjit musste sich diese Sequenz mindestens hundertmal angesehen haben. Sein Hirn fühlte sich von den ewig gleichen Bildern wie betäubt an und er konnte kaum noch die Augen offen halten.
    Die anderen schliefen schon seit Stunden. Er stand auf und ging zu Bowie, um bis zum Morgen an seinem Bett zu wachen.
    Er setzte sich in den Polsterstuhl neben Bowies Bett.
    Hinter ihm stand eine Bogenstehlampe, die einen kleinen Lichtkegel auf sein Buch warf. Es war ein Roman. Über Vietnam, ein Land, das an sein Geburtsland Thailand grenzte. Das Buch erzählte von einem Krieg, der dort vor langer Zeit gewütet hatte und in den die Amerikaner verwickelt gewesen waren. Doch das interessierte ihn nicht. Er las die Geschichte nur deshalb, weil darin

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