GONE Lügen
zwischen den Brandruinen. Andere waren nur zur Hälfte zerstört und einige waren innen vollständig ausgebrannt, während ihren Fassaden bis auf die schwarzen Rußränder an den Fenstern nichts anzumerken war.
Bei einem Haus war das Dach in Flammen aufgegangen und bis auf einige verkohlte, zum Himmel ragende Pfosten verschwunden, die grün gestrichene Außenwand wies jedoch so gut wie keine Brandspuren auf. Als Orsay durch ein Fenster spähte, erblickte sie einen Haufen schwarzer Dachschindeln und Balken, die mitten im Zimmer lagen. Als hätte jemand das Dach abgerissen und das Haus als Mülleimer für die verkohlten Trümmer verwendet.
Auf der gegenüberliegenden Straßenseite waren die Häuser einer anderen Art von Zerstörung zum Opfer gefallen. Als wäre ein Tornado über sie hinweggefegt, hätte sie aus ihren Fundamenten gerissen und nach hinten geschoben.
»Ich weiß doch selbst nicht, was ich tun soll«, sagte Orsay. »Wie soll ich da anderen einen Rat geben?«
»Es ist eine Strafe Gottes«, erklärte Nerezza. »Ich meine, das sieht man doch. Er will den Menschen klarmachen, dass sie Unrecht tun.«
»Abe r …«
»Was haben dir deine Träume gesagt, Prophetin?«
Orsay wusste, was ihr die Träume gesagt hatten, die Träume der Menschen auf der anderen Seite. In ihren Traumwelten gaben sie Orsay Botschaften an ihre Kinder mit und erhielten im Gegenzug erschreckende Bilder aus der FAYZ. Bilder von ihren gefangenen, brennenden Kindern.
Die Träume dieser Menschen waren voller Ängste, da sie mit ansehen mussten, was im Inneren der FAYZ geschah. Gleichzeitig waren sie voller Verzweiflung, weil sie wussten, dass es für ihre Kinder sehr wohl einen Ausweg gab.
Orsay hatte gesehen, dass Francis sicher und wohlbehalten auf der anderen Seite aufgetaucht war und von seinen Eltern unter Tränen in die Arme geschlossen wurde.
Zu wissen, dass die, die an ihrem Fünfzehnten verpufften, die FAYZ verlassen konnten und frei waren, beruhigte sie. Dieser Geburtstag war etwas, worauf sie sich jetzt schon freute.
Zuletzt hatte sie aber auch andere Bilder gesehen. Nicht an der FAYZ-Wand und auch nicht, als sie schlief. Es waren keine Träume gewesen, eher Visionen. Offenbarungen. Sie schlichen sich in ihre Gedanken, drängten sich in ihr Bewusstsein.
Sie hatte keine Kontrolle mehr über ihren Kopf. Als hätte sie vergessen eine Tür abzuschließen und könnte der Flut an Träumen und Visionen, die auf sie hereinstürzten und von schrecklichen Dingen zeugten, nicht mehr Einhalt gebieten.
In den neuen Visionen sah sie nicht allein die Kinder, die beschlossen hatten, aus der FAYZ auszusteigen. Sie sah neuerdings auch alle, die gestorben waren. Auch sie waren auf der anderen Seite und bei ihren Eltern.
Sie hatte die Kinder gesehen, die in der letzten Nacht ums Leben gekommen ware n – ihren Todeskampf, wie sie starben und gleich darauf von ihren Eltern umarmt wurden.
Sogar Hank war jetzt drüben. Hanks Vater hatte ihn nicht an der Wand erwartet, war aber von der Polizei verständigt worden. In einer Bowlinghalle in Irving, wo er sich gerade ein Bier genehmigte. Er musste gegen den Lärm der rollenden Kugeln und umfallenden Kegel anschreien, als der Polizist auf ihn zutrat.
»Was ist?«
»Hank, Ihr Sohn. Er ist draußen!«, hatte der Beamte gesagt.
Orsay war sich bewusst, was diese Bilder bedeuteten, und allein bei dem Gedanken daran wurde ihr übel.
»Was erzählen dir deine Träume, Prophetin?«, drängte Nerezza.
Orsay durfte aber weder ihr noch sonst jemandem sagen, dass der Tod ein Ausweg war, nicht nur das Verpuffen am fünfzehnten Geburtstag.
Wenn die Kids das erfuhre n …
»Erzähl es mir!«, verlangte Nerezza. »Ich weiß, dass deine Kräfte wachsen und du mehr siehst als je zuvor.«
Nerezza war ganz nah an sie herangetreten. Ihre Hand krallte sich in Orsays Arm. Orsay spürte Nerezzas Verlangen, ihren Hunger, ihre Kraft. Nerezza wollte die Antwort mit aller Macht aus ihr herauspressen.
»Nichts«, flüsterte Orsay.
Nerezza trat einen Schritt zurück. Einen Moment lang schien sie die Zähne zu fletschen– wie ein Tier. Ihre Augen blitzten vor Wut. Doch gleich darauf wurde ihr Gesichtsausdruck wieder sanft und sie sagte: »Du bist die Prophetin.«
»Es geht mir nicht gut. Ich möchte nach Hause.«
»Das sind die Träume«, erklärte Nerezza. »Du schläfst nicht gut, nicht wahr? Ja, du solltest dich ein wenig hinlegen.«
»Ich möchte nicht mehr träumen«, sagte Orsay.
Neunundzwanzig
11 Stunden,
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