GONE Lügen
24 Minuten
In Hunters Beutel lagen sechs Vögel. Drei Krähen, die nicht viel hergaben, eine Eule, die zwar mehr Fleisch auf den Rippen hatte, aber ziemlich ekelhaft schmeckte, und dann noch zwei bunte Exemplare. Wie sie hießen, wusste er zwar nicht, aber ihr Fleisch war saftig und lecker und er hielt stets nach ihnen Ausschau, weil Albert sich über sie freute.
Er war auf dem Gebirgskamm im Norden der Stadt unterwegs. Der Beutel mit den Vögeln hing schwer von seiner Schulter, dazu kam noch sein Rucksack mit dem Schlafsack, dem Topf und der Trinkschale, einem Extrapaar Socken, einem Reservemesser und weiteren wichtigen Dingen.
Hunter war die ganze Nacht der Fährte zweier Hirsche gefolgt. Wenn es ihm gelang, sie einzuholen und zu töten, müsste er sie an Ort und Stelle mit dem Messer ausweiden, eins der Tiere an einen Baum hängen und später noch einmal zurückkommen.
Hunter schnüffelte in der Luft. Er war dahintergekommen, dass er die Tiere, auf die er Jagd machte, wittern konnte. Sie hatten alle einen eigenen Geruch, nicht nur die Hirsche, sondern auch die Waschbären und die Beutelratten. Doch als er jetzt die Nase in die Luft streckte, roch er Rauch.
Hunter dachte angestrengt nach. Hatte er vor Kurzem irgendwo in der Nähe campiert? Oder war jemand anders hier oben und hatte ein Lagerfeuer gemacht?
Er befand sich in einer Senke, neben der hohe Bäume aufragten. Hunter zögerte. Ein Lagerfeuer roch anders. Da brannten nicht bloß morsches Holz und Reisig.
Als auf einmal ein großer Hirsch mit mächtigem Geweih vor ihm auftauchte, war er nicht darauf vorbereitet. Das Tier bemerkte ihn nicht. Es war auch nicht auf der Flucht, sondern trabte gemächlich dahin, sprang geschickt über die am Boden liegenden Stämme und wich elegant dem dichten Dornengestrüpp aus.
Hunter zielte mit beiden Händen. Nach zwei weiteren Sprüngen fiel der Hirsch vornüber.
Hunter rannte zu ihm.
»Keine Angst«, flüsterte er dem noch lebenden Tier zu. »Es tut nicht weh.«
Kaum hatte er die Handfläche auf den Kopf des Tiers gelegt, bildete sich ein milchiger Schleier über seinen Augen und es hörte auf zu atmen.
Hunter nahm seinen Rucksack ab, legte den Beutel mit den Vögeln daneben und zückte sein Messer.
Ein so großes Tier hatte er noch nie erlegt, er würde es niemals in einem Stück in die Stadt zurückbringen können.
Hunter nahm einen kräftigen Schluck aus seiner Feldflasche und setzte sich hin. Er hatte die ganze Nacht kein Auge zugetan. Das machte sich jetzt bemerkbar. Außerdem musste er jetzt nicht mehr weiterlaufen. Es würde zwei Tage dauern, bis er die Vögel und den Hirsch geschlachtet und in mehreren Etappen in die Stadt gebracht hätte.
Nicht weit von hier gab es mehrere flache Höhlen, aber er wusste, dass sie von fliegenden Schlangen bewohnt waren, und denen ging er lieber aus dem Weg. Besser, er blieb hier im Freien.
Er legte den Kopf auf einen morschen Ast und schlief sofort ein.
Als ihn ein Geräusch weckte, stand die Sonne direkt über ihm. Jemand schlich sich an ihn heran, stellte sich dabei aber nicht sehr geschickt an.
»Hi, Sam«, sagte Hunter.
Sam blieb wie angewurzelt stehen.
Hunter setzte sich auf. »Was tust du hier?«
Sams Blick schweifte umher, als suchte er die Antwort in den Bäumen. Etwas an ihm war anders als sonst. Er erinnerte Hunter an ein in die Enge getriebenes Tier, das wusste, dass es vorbei war.
»Ic h … äh m … ich bin hier bloß langgekommen.«
»Bist du auf der Flucht?«
Sam starrte ihn entgeistert an. »Nein.«
»Ich rieche Feuer.«
»Ja, in der Stadt hat es gebrannt. Ist das ein Hirsch?«
Blöde Frage, dachte Hunter, er nickte aber trotzdem.
»Ich hab Hunger«, gestand Sam.
Auf Hunters halbseitig gelähmtem Gesicht erschien ein schiefes Lächeln. »Ich kann uns einen Vogel braten. Aber den Hirsch muss ich Albert bringen.«
»Etwas Vogelfleisch wäre fein.«
Sam setzte sich im Schneidersitz auf den Waldboden. Er war verletzt. Auf seinem Hemd waren Blutflecken und seine Schulter wirkte steif.
»Ich könnte ihn mit den Händen kochen, aber er schmeckt besser, wenn ich ihn über dem Feuer brate.«
Hunter legte trockene Kiefernnadeln, etwas Reisig und ein paar größere Äste übereinander und entfachte ein kleines Feuer. Dann holte er einen der bunten Vögel aus seinem Beutel, rupfte ihn und drehte ihn über den Flammen hin und her, um die Stoppelfedern abzubrennen. Anschließend teilte er ihn in kleine Stücke und spießte sie auf den Draht eines
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