GONE Verloren
doch gar keinen Bus«, hatte er erwidert.
»Hmm. Jetzt verstehe ich endlich, warum sie nie pünktlich sind.« Dabei hatte sie ihn lachend in die Arme geschlossen.
»Sam, deine Geburtsurkunde ist auch da drin«, hatte sie geflüstert.
»Okay.«
»Du entscheidest, ob du sie sehen möchtest.«
Bei diesen Worten war er in ihren Armen stocksteif geworden. Seine Geburtsurkunde würde drei Namen enthalten: seinen eigenen, den seiner Mutter und den seines Vaters.
Sam wusste seit Monaten von dem Kästchen. Und wo der Schlüssel versteckt war.
Nun war es weg.
Er konnte sich denken, wer das Haus durchsucht und die Sachen mitgenommen hatte.
Spätestens jetzt war Caine klar, dass Sam die Kraft hatte.
Er holte sein Rad, um zu Astrid zu fahren. In diesem Augenblick sehnte er sich nach niemandem so sehr wie nach ihr.
Inzwischen nutzten die meisten Kids Fahrräder oder Skateboards, um sich fortzubewegen. Nur die Kleinen gingen zu Fuß. Als er auf dem Weg zu Astrids Haus über die Plaza kam, begegnete er ihnen. Sie überquerten gerade in Zweierreihen die Straße. John ging voran. Seine Schwester Mary schob einen Buggy. Ein Mädchen in Coates-Uniform trug einen Knirps auf ihrer Hüfte. Zwei andere, die für diesen Tag eingeteilt waren, liefen neben den rund dreißig Kindern her. Dafür, dass sie so klein waren, wirkten sie sehr bedrückt, obwohl es dann doch ein paar gab, die Unfug trieben und von Mary zur Ordnung gerufen wurden.
»Julia, Zosia, bleibt in der Reihe!«
Die Zwillinge Emma und Anna bildeten die Nachhut. Sam kannte sie ganz gut, mit Anna war er sogar einmal ausgegangen. Emma schob einen Kinderwagen, Anna einen Einkaufswagen mit Imbissen, Windeln und Babyfläschchen.
Sam hielt an. Sie benutzten den Zebrastreifen, was er gar nicht mal schlecht fand. So lernten sie, die Straße auch dann sicher überqueren zu können, wenn irgendwann einmal wieder Verkehr herrschen sollte.
Ein paar Kids hatten bereits versucht, Auto zu fahren, fast immer mit bösen Folgen. Auch dafür hatte Caine eine Regel erlassen: Niemand durfte hinters Steuer, außer ein paar seiner Leute und Edilio, der theoretisch den Krankenwagen oder das Löschfahrzeug fahren sollte. Vorausgesetzt, dass er je dahinterkam, wie das gehen sollte.
Anna winkte Sam im Vorbeigehen zu.
»Hey, Sam!«, rief Emma ihm über ihre Schulter hinweg zu. »Wünsch Anna und mir alles Gute zum Geburtstag.«
»Herzlichen Glückwunsch!«, sagte Sam, bevor er stehend in die Pedale trat, um so schnell wie möglich zu Astrid zu kommen.
Die Erinnerung an das Date mit Anna stimmte ihn melancholisch. Er mochte sie, aber damals war er an Mädchen noch nicht interessiert gewesen. Er hatte sich mit ihr getroffen, weil er dachte, dass die anderen es von ihm erwarteten. Er wollte vor ihnen nicht als Waschlappen dastehen. Und als dann auch noch seine Mutter anfing, ihn zu löchern, wann er denn endlich mal mit einem Mädchen ausgehen wollte, hatte er Anna ins Kino eingeladen.
Seine Mutter hatte sie mit dem Auto hingebracht. Es war ihr freier Abend gewesen. Sie hatte sie beim Kino aussteigen lassen und später wieder abgeholt. Er und Anna hatten sich nach dem Film eine Pizza mit gegrilltem Hühnerfleisch geteilt.
Geburtstag?
Sam bremste scharf, wendete und fuhr, so schnell er konnte, zurück zur Plaza. Er holte die Gruppe an der Strandpromenade wieder ein. Die Kleinen kletterten gerade unbeholfen über die niedrige Ufermauer, schlüpften lachend aus ihren Schuhen und liefen vergnügt auf den Sand.
Mary rief ihnen hinterher: »Lasst eure Schuhe nicht liegen, nehmt sie mit! Alex, heb deine Schuhe auf und trag sie in der Hand!«
Anna hatte den Einkaufswagen abgestellt, Emma löste gerade den Gurt ihres Schützlings, um ihn aus dem Kinderwagen zu heben.
Sam warf sein Rad hin und rannte zu Anna.
»Was ist, Sam?«
»Welcher Geburtstag?«, keuchte er.
»Was?«
»Welcher Geburtstag, Anna?«
Es dauerte einen Moment, bis sie seine Angst registrierte. Bis ihr dämmerte, was der Grund dafür war.
»Der Fünfzehnte«, wisperte sie.
»Was ist los?« Emma, die die Unruhe ihrer Zwillingsschwester sofort spürte, blickte Sam fragend an. Als er es ihr gesagt hatte, flüsterte sie ebenfalls: »Das hat nichts zu bedeuten. Sicher nicht.«
»Wahrscheinlich hast du Recht«, erwiderte Sam.
»Oh Gott!«, rief Anna. »Werden wir verschwinden?«
»Wann seid ihr zur Welt gekommen? Um welche Uhrzeit?«
Die Zwillinge sahen einander bestürzt an. »Das wissen wir nicht«, sagten sie wie aus einem
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