GONE Verloren
zweiundzwanzigsten November geboren werden«, fuhr Diana ungerührt fort. »Einer bleibt bei seiner Mutter. Einer wird zur Adoption freigegeben.«
»Sie war deine Mutter? Und sie hat dich weggegeben und Sam behalten?« Drakes Schadenfreude über Caines Erniedrigung war nicht zu überhören.
Caine wandte sich von Diana ab, streckte die Arme aus und richtete seine Handflächen auf Drake.
»Schwerer Fehler«, murmelte Diana, wobei nicht klar war, ob sie Drake oder Caine meinte.
Etwas schlug mit enormer Wucht in Drakes Brustkorb ein, hob ihn in die Luft und schleuderte ihn gegen die Wand. Er knallte in mehrere gerahmte Bilder und fiel wie ein Sack zu Boden.
Drake wollte hochschnellen und Caine erledigen, bevor der Freak Zeit hatte, ihn noch einmal zu treffen. Doch Caine stand mit vor Zorn rotem Gesicht über ihm und hatte die Zähne gefletscht wie ein tollwütiger Hund.
»Vergiss niemals, wer der Boss ist, Drake!« Caines Stimme war tief, ein kehliges Knurren wie von einem Tier.
Drake nickte. Er gab sich geschlagen. Vorläufig.
»Steh auf!«, befahl Caine in einem ruhigen Ton, der keinen Widerstand duldete. »Wir haben zu tun.«
Astrid und Pete saßen auf der vorderen Veranda. Ihre Beine lagen auf dem Geländer und glänzten schneeweiß in der Sonne. Sie hatte von Natur aus einen blassen Teint und nie zu den Leuten gehört, die unbedingt braun werden wollten. An diesem Tag verspürte sie aber ein dringendes Bedürfnis nach Sonnenlicht. Die Betreuung ihres kleinen Bruders spielte sich fast ausschließlich im Haus ab, und nachdem sie die letzten paar Tage nicht vor die Tür gekommen war, kam es ihr allmählich wie ein Gefängnis vor.
Sie fragte sich, ob es ihrer Mutter auch so gegangen war. War das der Grund, warum sie nach jahrelanger Aufopferung für den kleinen Pete an dem Punkt angelangt war, an dem ihr jede noch so beliebige Ausrede recht war, um ihn nicht selbst beaufsichtigen zu müssen?
Sie erblickte Sam, der wild in die Pedale tretend in ihre Richtung kam. Er hatte ihr versprochen, sie in den Laden zu begleiten, und sie hatte schon auf ihn gewartet, wenn auch mit gemischten Gefühlen. Sie freute sich auf ihn, zugleich machte sie die Vorstellung nervös.
Der Kuss war ein Fehler gewesen. Es sei den n …
Sam warf sein Rad auf den Rasen und hastete die Stufen zur Veranda herauf.
»Hallo, Sam.« Er schien völlig außer sich. Sie nahm die Beine vom Geländer.
»Anna und Emma sind gerade verschwunden.«
»Was?«
»Ich war dabei. Ich hab alles gesehen. Ich hab sogar Annas Hand gehalten, als si e …«
Astrid stand auf. Ohne nachzudenken, schloss sie Sam fest in die Arme, wie sie es bei Pete tat, wenn sie ihn beruhigen wollte.
Doch im Gegensatz zu Pete reagierte Sam auf ihre Berührung. Er erwiderte ihre Umarmung, wenn auch etwas unbeholfen, und verbarg sein Gesicht in ihren Haaren. Sie spürte seinen stockenden Atem in ihrem Nacken, und es schien, als würden sie sich gleich wieder küssen, doch dann ließen sie beide gleichzeitig los und traten einen Schritt zurück.
»Sie hatte solche Angst. Ich meine Anna. Sie sah Emma verschwinden. Emma kam sechs Minuten vor ihr zur Welt, sie war also als Erste weg. Danach wusste Anna, was ihr bevorstand.«
Astrid ging mit Sam in die Küche und schenkte ihm ein Glas Wasser ein.
»Ich habe noch fünf Tage«, sagte Sam. »Fünf Tage. Nicht mal eine Woche.«
»Das kannst du nicht wissen.«
»Lass das, okay? Erzähl mir nicht, dass alles gut wird. Nichts wird gut.«
»In Ordnung. Du hast Recht. Die Grenze ist also das fünfzehnte Lebensjahr, wer es erreicht, verschwindet.«
Das schien ihn zu beruhigen. In diesem Augenblick wollte er die Wahrheit hören, ungeschminkt und ohne Ausflüchte. Es kam ihr in den Sinn, dass sie ihm mit ihrer Ehrlichkeit helfen konnte, nicht nur jetzt, sondern auch in Zukunft. Falls sie überhaupt eine Zukunft hatten.
»Ich hab es verdrängt. Nicht darüber nachgedacht. Mir eingeredet, es wird schon nicht passieren.« Er sah seine eigene Angst in ihrem Gesicht gespiegelt und wollte sie herunterspielen. »Hat ja auch was Gutes: Ich muss mir keine Gedanken mehr machen, wie deprimierend Thanksgiving in der FAYZ sein wird.«
»Vielleicht lässt es sich ja verhindern«, wandte Astrid vorsichtig ein.
Er sah sie hoffnungsvoll an, als würde sie ihm gleich verraten, wie. Als sie den Kopf schüttelte, sagte er: »Bis jetzt hat noch niemand von uns nach einem Weg aus der FAYZ gesucht. Vielleicht gibt es eine Fluchtmöglichkeit, eine Pforte,
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