Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Goodbye Chinatown: Roman (German Edition)

Goodbye Chinatown: Roman (German Edition)

Titel: Goodbye Chinatown: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean Kwok
Vom Netzwerk:
schnaubte ungläubig, als sie die weißen Atemwolken vor ihrem Mund sah.
    Statt Mitleid oder Scham sprach nackte Wut aus ihrem Gesicht. »Du hättest es mir sagen müssen.«
    Ich suchte stammelnd nach einer Antwort. »Ich wusste nicht wie.«
    Ihr Gesicht wurde fleckig, und sie sah aus, als würde sie
gleich in Tränen ausbrechen. »Ich wusste, dass ihr nicht viel Geld habt, aber das hier ist der reine Wahnsinn. Kein Mensch in Amerika lebt so.«
    Ich sprach das Offensichtliche aus: »Du siehst doch, dass Menschen so leben.«
    Die Wörter sprudelten nur so aus ihr heraus: »Das ist der schlimmste Ort, den ich je gesehen habe. Jahrelang habe ich mich gefragt, warum du mir nie deine Wohnung zeigst. Ich habe mir eingeredet, dass ich dich nicht zu etwas zwingen darf, was du nicht willst. Ich habe eine Theorie nach der anderen entwickelt: dass du hier deinen Vater versteckst, dass es irgendein chinesisches Geheimnis gibt, dass deine Mutter todkrank ist und du sie pflegst. Als die Aufführung heute abgesagt wurde, wollte ich einfach wissen, ob du mir wirklich die Wahrheit gesagt hast, und ich wollte auch wissen, warum ich nie hierher eingeladen wurde. Also habe ich beschlossen, dich zu besuchen.«
    Ich zeigte auf das Vorbereitungsbuch zum Einbürgerungstest, das auf dem Tisch lag.
    Sie nahm es nickend zur Kenntnis. »Ich hab’s einfach nicht mehr ertragen. Wenn ich nicht hergekommen wäre, hättest du es mir nie erzählt. Du hättest weiter hier gewohnt, ohne mich um Hilfe zu bitten.«
    Beim Gedanken, dass sie mir tatsächlich geholfen hätte, ging ich auf sie zu und umarmte sie. Sie wehrte sich nicht.
    »Es hätte doch keinen Zweck gehabt«, sagte ich. »Wenn ich ein bisschen älter bin, hole ich uns hier raus.«
    »Ich will nicht, dass ihr auch nur einen Tag länger hier bleibt.« Annette drückte mich kurz und ging dann durch die Wohnung. Nach einem Blick auf den Küchentisch wich sie angeekelt zurück. »Deine Sojasoße ist eingefroren! Und eine Kakerlake trinkt aus der Schüssel!«
    Ich hatte das Essen gerade wegräumen wollen, als sie an die Tür geklopft hatte. Ich schlug auf den Tisch, um die Kakerlake zu verscheuchen, und stellte die Schüssel dann schnell in die Spüle, um sie auszuwaschen, bevor noch mehr Tiere angelockt wurden. Annette setzte inzwischen ihre Besichtigungstour durch die Wohnung fort.
    »Warum wurde deine Aufführung abgesagt?«, fragte ich sie.
    »Es gab irgendwie Probleme mit der Beleuchtung, und gestern bei der Generalprobe hatten wir dann einen Kurzschluss. Die haben es immer noch nicht geschafft, das wieder hinzukriegen.«
    Dann rief sie über die Schulter: »Wie gut, dass du so schlau bist!«
    »Ich habe nur Glück.«
    Sie stand wieder neben mir und rümpfte die Nase. »Das würde ich so nicht sagen. Du musst deinen Vermieter anzeigen. Solche Wohnverhältnisse sind illegal.«
    »Kann ich nicht. Es ist etwas kompliziert.«
    »Na ja, bleiben könnt ihr hier jedenfalls nicht. Wir müssen mit meiner Mutter reden.«
    »Nein, ich will nicht, dass irgendjemand davon erfährt. Annette, bitte sag es ihr nicht.«
    »Kimberly, du weißt doch, dass meine Mutter Immobilienmaklerin ist. Sie könnte euch bestimmt helfen.«
    »Wir haben aber kein Geld.« Jetzt, wo es ohnehin offensichtlich war, konnte ich es endlich aussprechen.
    »Bitte, lass mich sie fragen. Vielleicht findet sie eine Lösung.«
    »Ich will aber nicht, dass sie es weiß.« Plötzlich traf mich die Schande, in diesem Loch zu wohnen, mit voller Wucht wie der Strahl eines voll aufgedrehten Gartenschlauchs.
    »Ich erzähl’s ihr nicht. Ich sage nur, dass ihr was Drecksbilliges sucht.« Als sie meinen Blick sah, fügte sie hinzu: »Ich meine natürlich was Günstiges.«
     
    »Glaub’s mir, Kimberly, das Leben in der Vorstadt ist die absolute Hölle auf Erden.« Curt und ich machten gerade Pause. Er lag ausgestreckt auf dem Boden des Klassenzimmers, das wir uns für die Nachhilfestunde ausgeborgt hatten, und stützte sich auf den rechten Ellbogen. Das Mathebuch vor seiner Nase hatte er zugeklappt. Ein paar andere Bücher lagen im Halbkreis um ihn herum.
    Das Leben in der Fabrik ist die absolute Hölle, dachte ich, aber laut sagte ich nur: »Für mich klingt es gar nicht so schlecht.«
    »Das sagst du nur, weil du noch nie da warst.«
    »Woher willst du das wissen?«
    »Also? Warst du schon mal da?«
    Er hatte mich in die Ecke getrieben. »Nein. Aber wann hast du je in einer Vorstadt gewohnt?«
    »Noch nie. Aber von dem hier mal ganz

Weitere Kostenlose Bücher