Goodbye Chinatown: Roman (German Edition)
abgesehen« – er klopfte auf die Taschenbuchausgabe von Hasenherz von John Updike, die er gerade für den Englischunterricht las –, »habe ich Filme darüber gesehen, was mich natürlich zum absoluten Experten macht. Sich jeden Tag in den Anzug zu zwängen und von neun bis fünf im Büro zu sitzen, das ist doch kein Leben.«
»Was willst du dann?«
Er schwieg und ließ sich dann nach hinten auf den Boden sinken. Seine Mähne bildete einen goldenen Fächer auf dem dunklen Teppichboden. »Wahre Größe. Ich will mich zu etwas Höherem entwickeln. Und ich will frei sein.« Er setzte sich wieder auf und sah mich mit seinen strahlend blauen
Augen an. »In der Vorstadt kann man kein außergewöhnliches Leben führen.«
»Also ich brauche kein ungewöhnliches Leben.«
»Selbst wenn du wolltest, könntest du nicht gewöhnlich sein. Das mag ich so an dir.« Er beugte sich zu mir und küsste mich.
Ich löste mich aus seiner Umarmung und antwortete: »Ich wünschte, du hättest recht. Aber mein Traum sieht so aus: eine Karriere, die mich befriedigt, ein netter Mann, ein sauberes Heim, ein oder zwei Kinder. Für mich wäre es außergewöhnlich genug, das alles zu erreichen.«
»Dann komme ich dich in der Vorstadt besuchen.«
Einen Monat später lud mich Annettes Mutter in ihr Maklerbüro ein. Als sich die dicke Glastür hinter mir schloss, kam ich mir sofort fehl am Platz vor in meiner schäbigen Jacke. Mrs Avery saß an ihrem Schreibtisch und sprach mit einer Dame im kamelfarbenen Kostüm. Nachdem sie aufgeblickt und mir zugelächelt hatte, bedeutete mir Mrs Avery, im geräumigen Wartebereich Platz zu nehmen.
Dann war ich endlich an der Reihe. Mrs Avery stand auf und schüttelte mir wie einer Erwachsenen die Hand. Sie fragte nicht, wo meine Mutter war.
»Ich hätte da vielleicht was für dich. In Queens, in einer recht grünen Gegend.«
Mein Herz schlug schneller. Damals lebten die meisten New Yorker Chinesen noch in Chinatown. Einige wenige verteilten sich auf Viertel wie Brooklyn, so wie wir, und die wirklich Erfolgreichen zogen nach Queens. Queens galt zu der Zeit als noch schicker als Staten Island, wo Tante Paula wohnte.
Mrs Avery fuhr fort: »Normalerweise habe ich keine Wohnungen
zu diesem Preis im Angebot, aber ich will ehrlich zu dir sein: Die Wohnung war lange vermietet und ist daher nicht gerade im Optimalzustand. Die meisten meiner Kunden würden sie nicht einmal besichtigen.«
»Hat die Wohnung eine Heizung?«, fragte ich besorgt. Die Frage schien sie zu überraschen. »Du meinst Zentralheizung?«
»Ja, hat sie Heizkörper, die tatsächlich funktionieren?«
»Natürlich. Keine Sorge, die Heizung funktioniert tadellos.« Sie blinzelte und redete dann weiter: »Die Wohnung ist komplett möbliert und verfügt über die üblichen Haushaltsgeräte: Waschmaschine, Trockner, Kühlschrank, Ofen, die ganze Palette.«
Eine Waschmaschine und ein Trockner in der eigenen Wohnung! Dann mussten wir nicht mehr alles von Hand waschen und zum Trocknen aufhängen. Allein der Gedanke an eine warme, beheizte Wohnung war himmlisch. Ich wusste, dass ich mir mit meinen Fragen eine Blöße gab, aber ich wollte ganz sicher sein, dass ich nicht wieder enttäuscht wurde. »Gibt es in der Wohnung Insekten?«
Dieses Mal war sie vorbereitet und zuckte nicht mit der Wimper. »Du meinst, Insekten wie Ameisen und Kakerlaken? Nein.«
»Ratten?«
»Auch nicht.«
»Warum haben Sie dann gesagt, die Wohnung sei nicht im Optimalzustand?«
»Na ja, sie ist nicht besonders groß, und an manchen Stellen blättert die Wandfarbe ab – nicht großflächig, nur hier und da. Der Teppichboden wird auch schon ein bisschen dünn. Solche Sachen eben.«
»Das ist okay.« Ich konnte nicht glauben, wie gut sich die
Wohnung anhörte. Besser, ich wappnete mich schon einmal für die nächste Enttäuschung, denn jetzt kam die alles entscheidende Frage: »Wie hoch ist die Miete?«
Sie schrieb mir die Zahl auf ein Blatt Papier. Zu meiner Überraschung war es nicht viel mehr, als wir jetzt zahlten, zumindest wenn ich den Betrag mit einberechnete, den wir Tante Paula jeden Monat für unsere Flugtickets und Visa zurückgezahlt hatten, plus die Zinsen, die sie uns berechnet hatte. Zum Glück hatten wir unsere Schulden vor wenigen Monaten abgeleistet. Meine Miene musste sich plötzlich aufgehellt haben, denn Mrs Avery hob warnend den Finger.
»Langsam, Kimberly, so einfach ist das nicht. Die Eigentümer wollen ganz sicher sein, dass ihre neuen
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