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Goodbye Chinatown: Roman (German Edition)

Goodbye Chinatown: Roman (German Edition)

Titel: Goodbye Chinatown: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean Kwok
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Vielleicht hielt er mich für arrogant oder glaubte, ich machte mich über ihn lustig, wenn ich ihn förmlich mit »Sir« ansprach oder aufstand, wenn ich aufgerufen wurde. Dieses Verhalten war so sehr Teil meiner Erziehung, dass es mir schwerfiel, es aufzugeben. Vielleicht traf aber auch das genaue Gegenteil zu:
Vielleicht wirkte ich unkultiviert mit meiner billigen, schlecht sitzenden Kleidung, ein Mädchen aus der Unterschicht. Woran es auch liegen mochte, ich konnte nicht viel dagegen tun.
    An den weißen Kindern schien sich Mr Bogart nicht ganz so zu stören, und daher hätte ich ihn wohl für einen Rassisten gehalten – hätte es Tyrone Marshall nicht gegeben. Tyrone war groß, hatte eine leise Stimme und war unglaublich gescheit. Und er war schwarz. Er hatte in jedem Fach die besten Noten, außer in Mathe, denn da war ich besser. Er prahlte nie mit seinen Leistungen, aber wenn er aufgerufen wurde, sagte er nie etwas Falsches. Für eine seiner Buchkritiken hatte er die Note A plus bekommen, und sie hing an der Wand unseres Klassenzimmers. Ich lernte eine Zeile daraus auswendig, weil sie großen Eindruck auf mich gemacht hatte, auch wenn ich nicht alle Wörter verstand: »Dieses Buch lässt uns teilhaben an einem Schlagabtausch erbitterter Kontroversen.« Tyrones Haut hatte einen matten, dunklen Braunton, wie mit Kakaopulver bestäubte Schokolade, und er hatte dichte, stark gebogene Wimpern. Mr Bogart liebte ihn, und ich auch.
    Wenn Mr Bogart uns wieder einmal Vorträge darüber hielt, wie wunderbar Tyrone war und was für ein trauriger Haufen Versager der Rest von uns, versank Tyrone immer tiefer in seinem Stuhl.
    »Du bist doch im Geddo geboren, oder, Tyrone?«, fragte Mr Bogart und schritt vor der Tafel auf und ab.
    Tyrone nickte.
    »Haben deine Eltern studiert?«
    Tyrone schüttelte den Kopf.
    »Was macht dein Vater?«
    Seine Stimme war kaum noch hörbar, als er antwortete: »Sitzt im Gefängnis.«
    »Und deine Mutter?«
    »Ist Verkäuferin.« Unter Tyrones Haut breitete sich ein dumpfes Glühen aus und erhellte ihn irgendwie von innen. Er fühlte sich schrecklich. Sosehr ich seine Verlegenheit nachfühlen konnte, ich wäre dennoch gerne an seiner Stelle gewesen.
    »Und TROTZDEM«, fuhr Mr Bogart voller Dramatik fort und drehte sich zu uns anderen Schülern um. »Und TROTZDEM hat dieser Junge bei den Zentralklausuren die höchsten Ergebnisse erzielt, die diese Schule je gesehen hat.«
    Tyrone blickte zu Boden.
    »Tyrone, ich weiß, dass du ein entscheidender Junge bist, aber du musst den anderen mit gutem Heimspiel vorangehen.« Mr Bogart setzte seine Ansprache fort: »Und TROTZDEM liest Tyrone Langsen Hughes und William Goldling. Ich frage euch: Was ist der Unterschied zwischen einem Tyrone Marshall und euch anderen? ENTSCHLOSSENHEIT. BISS.« Und so ging es immer weiter.
    Mr Bogarts Lobreden machten Tyrone zum absoluten Außenseiter in der Klasse. Ich hätte ihm gerne gesagt, dass es mir in Hongkong genauso ergangen war und ich nur zu gut wusste, wie einsam es einen machte, gleichzeitig bewundert und gehasst zu werden. Wie so vieles, was ich gerne gesagt hätte, behielt ich es für mich. Aber ich machte Folgendes: Wenn Annette mir Süßigkeiten gab, was oft vorkam, versteckte ich sie manchmal in Tyrones Pult. Ich wusste, dass er es niemandem verraten würde. Wenn er die Süßigkeiten fand, breitete sich langsam ein schüchternes Lächeln auf seinem Gesicht aus, und er sah sich verstohlen im Klassenzimmer um. Dann senkte ich schnell den Blick. Ich glaube nicht, dass er mir je auf die Schliche gekommen ist, aber sicher bin ich mir nicht.
    Miss Kumar, die schwarze Lehrerin, die in der Parallelklasse unterrichtete, hatte bunte Poster und Meerschweinchen in ihrem Klassenzimmer, und wenn ihre Tür geschlossen war, blieb ich manchmal auf dem Weg zur Mädchentoilette davor stehen und lauschte dem Gelächter ihrer Schüler. Miss Kumar war groß und elegant und hatte die langen Haare immer zu einem ordentlichen Knoten auf dem Kopf frisiert. Mr Bogarts Klassenzimmer hingegen war karg. Wir hatten keine Haustiere und nur wenig Wandschmuck, der hauptsächlich aus Schildern mit Druckbuchstaben bestand: ANFORDERUNGEN AN EINEN GUTEN STAATSBÜRGER . WEIHNACHTEN IST EIN FEST DER NÄCHSTENLIEBE.
     
    Mei Mei war meine Freundin in Hongkong gewesen. Sie war nicht nur schlau, sondern auch sehr hübsch, mit ihren schwarzen Locken und rosa Wangen. Ich war immer in allen Fächern die Klassenbeste gewesen, und sie die

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